Erschienen in der Luzerner Rundschau, 26. Oktober 2012
Willy Amman (63) war zwischen 1992 und 2005 beliebter Quartierpolizist in Luzern. Wir haben mit dem inzwischen pensionierten Alltagshelden gesprochen.
Herr Ammann, gibt es heute noch Quartierpolizisten, wie Sie einer gewesen sind?
Die gibt es nicht mehr. Die Quartierpolizei gibt es zwar noch immer, sie muss aber zu viel Zeit hinter dem Computer verbringen. Sie hat den täglichen, stundenlangen Kontakt mit den Bürgern nicht mehr, wie wir ihn noch gehabt haben.
Ich denke oft, wenn ich Polizisten begegne, dass es schön wäre, wenn sie mich Grüssen würden.
Ihnen fehlt die Präsenzzeit im Quartier. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Quartierpolizisten von heute im Turnus arbeiten müssen. Das heisst, sie bewegen sich nicht mehr von Montag bis Freitag im Quartier, sondern belegen dauernd wechselnde Schichten.
Das heisst, dem Quartierpolizist fehlt die Alltagsroutine?
Ja, er hat tatsächlich keine Alltagsroutine mehr. Je mehr sich der Quartierpolizist und der Bürger treffen, umso näher kommen sie sich. Und umso mehr Vorurteile gegenüber der Polizei können abgebaut werden. Dann merken die Bürger plötzlich, dass das «gäbigi Sieche» sind. Mit dem persönlichen Kontakt kann auch eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Das ist bis heute der Fall, denn es sind gute Quartierpolizisten unterwegs. Leider haben sie weniger Zeit für den Bürger.
Wann kam es denn zum Turnus-System bei den Quartierpolizisten?
Den Turnus gab es schon immer, schon als ich 1972 bei der Polizei angefangen habe. Aber als 1990 die Quartierpolizei eingeführt wurde, bekam sie den Auftrag, von Montag bis Freitag zu arbeiten. Wir waren täglich um die 6,5 Stunden in den Quartieren unterwegs. Dabei habe ich jährlich die Strecke Luzern- Paris zurückgelegt. Nach der Fusion mit Littau hat sich das geändert, die Quartierpolizei wurde neu organisiert. Mit dem Turnus System ist es möglich, dass der Quartierpolizist nach einem Sonntagsnachtdienst erst am Donnerstag wieder im Quartier unterwegs ist.
Warum sind denn die Wochentage so wichtig?
Den Bürger trifft man im Alltag. Am Wochenende haben alle genug zu tun. Den Quartierpolizisten interessieren die Alltagsprobleme. So gesehen war unsere Arbeitszeit die bessere. Der heutige Quartierpolizist ist sicher ein Drittel weniger im Quartier, als wir das waren.
Können die Quartierbüros der Stadt diesen Verlust in gewissem Masse kompensieren?
Nein. Der Unterschied ist in erster Linie der, dass wir vereidigte Polizisten waren. Ich konnte aufgrund von Hinweisen aktiv werden, konnte der IV helfen, wenn jemand zu unrecht Geld bezog oder konnte eine Scheinehe aufdecken. Das ist alles Polizeiarbeit, die nur dank einer guten Verankerung und viel Vertrauen im Quartier funktionieren kann. Der Quartierpolizist ist ein Präventivpolizist. Diese Aufgabe kann ein Quartierbüro nicht übernehmen.
Was war denn Ihr Geheimnis als Quartierpolizist?
Ich habe die Leute immer ernst genommen, auch Kinder, und immer jeden einzelnen Fall abgeklärt. Ich habe nie etwas versanden lassen.
Was mir bei Ihnen auffällt, ist eine besondere Verbundenheit zu den schwächeren Gliedern der Gesellschaft. Ist das tatsächlich so?
Ja, das stimmt. Ob Kinder, ältere Menschen oder Tiere. Einen ganz besonderen Stellenwert hatte die Gassechuchi. Ich war dort ein regelmässiger Gast.
Wahrscheinlich als einziger Polizist?
Ja, ausser es wurde ein Aufgebot geschickt, die wurden aber weniger gern gesehen (lacht). Ich war der Einzige, der sich dort frei bewegen konnte und akzeptiert wurde. Ich habe die Drogenabhängigen soweit gebracht, dass sie mit mir zusammen Spritzen eingesammelt haben. Am Schluss haben sie sich gar gestritten, wer mitdarf. So bekam ich einen sehr guten Ruf. Erst dann konnte ich auch mal hart durchgreifen und ihnen ins Gewissen reden. Die Gassechuchi war etwas Einzigartiges für mich. Durch viele Begegnungen und vielen kleinen Gesten konnte ich dieses Vertrauen aufbauen.
Schauen wir etwas zurück. Sie wollten schon als kleines Kind Polizist werden?
Ich wollte schon als Kindergärtner Polizist werden. Dieser Wunsch ist vielleicht aus einer Begegnung mit einem Polizisten entstanden, der freundlich zu mir war.
Und sie hatten danach nie einen anderen Berufswunsch?
Ich hatte schon auch andere Gedanken, aber der Polizist war immer im Hinterkopf. Ich habe gewusst, dass ich einen Beruf und den Militärdienst dafür haben muss. Als Unteroffizier und mit einer Berufslehre im Rucksack wurde ich dann bei der Polizei angenommen.
Sie hatten eine schwierige Jugend, waren im Erziehungs- und im Kinderheim. Zudem haben Sie einen behinderten Sohn. Wie haben Sie es trotzdem geschafft, immer für die Menschen da zu sein?
Ich glaube, da existiert ein innerer Kern. Meine Mutter war ein ganz lieber Mensch, obschon sie später dem Alkohol verfallen ist. Sie hätte ihr letztes Hemd verschenkt. Dazu kommt meine Grossmutter. Wir hatten ein wunderbares Verhältnis. In mir hat das «Gute» Oberhand gewonnen. Ich hätte genau so gut in der Gassechuchi landen können. Die Helden in den Comics, die ich als Primarschüler geliebt habe, haben immer für das «Gute» gekämpft. Das hat vielleicht etwas abgefärbt (lacht). Als ich als Polizist vereidigt wurde, habe ich gedacht, jetzt hast du es geschafft. Das war ein irrsinniges Gefühl. Von da an konnte ich für die Schwachen da sein, und gegen diejenigen Kämpfen, die sie plagen.
Weil Sie auch selber geplagt wurden?
Ja. Ich bin zum Beispiel völlig zu Unrecht im Erziehungsheim gelandet. Dort habe ich mit meinem Zimmerkollegen abgemacht, dass wir mit 20 Jahren wieder zurückkommen und die Hütte anzünden werden. Der Grat war sehr schmal. Ich hatte Gedanken, Menschen zu «vermöbeln», von denen ich mich ungerecht behandelt fühlte. Hätte ich das tatsächlich gemacht, wäre wohl aus meinem Traum, Polizist zu werden, nichts geworden. Ich war auf gute Menschen angewiesen.
Welche Rolle spielt für Sie die Wertschätzung?
Die Wertschätzung war und ist mir noch immer wahnsinnig wichtig. Jeder Mensch wird gerne gelobt. Je mehr ich helfen konnte, umso höher wurde die Wertschätzung.
Wann begannen Sie mit dem Schreiben und Dichten?
Ich schreibe eigentlich seit ich bei der Polizei bin, ob für den Fussballverein FC Stadtpolizei oder für das Mitteilungsblatt der Stadtpolizei. Ausserdem war ich Samichlaus bei der Polizei, dort schrieb ich lustige Chlausgedichte. Daraus entstand mein erstes Buch, das die Polizisten intern kaufen konnten.
Konnten Sie durch das Schreiben auch Erlebnisse verarbeiten?
Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich habe nach meinem Buch «Mein Leben als Quartierpolizist» überlegt, einen Krimi zu schreiben. Ich hätte die Geschichte nach dem alten Edgar-Wallace-System geschrieben, aber in der neuen Zeit und in Luzern. Aber diese Gedanken habe ich alle fallen lassen, obwohl ich schon einen Titel vor Augen hatte: «Wenn sich der Nebel senkt». Aber das Verfassen eines Buches ist mit wahnsinnig viel Aufwand verbunden.
Ich möchte noch zur Stadt Luzern zu sprechen kommen. Sie haben immer in Luzern gelebt?
Ja. Ich bin ein angefressener Luzerner. Mit allem drum und dran. Luzern ist bei mir im Blut. Ich darf an einem Ort leben, der von x-Millionen Menschen besucht wird.
Haben Sie nie Fernweh verspürt?
Das ist eine gute Frage. Ich bin in Luzern auf die Welt gekommen und bis heute da geblieben. Ich besuchte mit meiner Frau aber viele europäischen Städte. Immer für drei bis vier Tage. Meine Frau wusste, wie gern ich danach wieder heim kehrte. Die Freude bei der Heimkehr war immer grösser als bei der Abreise.
Was sind Ihre zwei Lieblingsorte in Luzern?
Als erstes ganz klar die Hochrütistrasse 34. Da lebte ich schon als junger Knabe. Vor 38 Jahren kam ich wieder zurück in dieses Haus. Mein zweiter Lieblingsort ist die alte Allmend. Die vermisse ich.
Sie sind nun seit drei Jahren pensioniert. Was haben Sie noch vor?
Ich habe vor, weiterhin Musik zu machen in den Altersheimen. Es ist etwas vom schönsten, diesen Menschen eine Freude zu bereiten. Ich spiele mit Gitarre und Mundharmonika bekannte Lieder aus den Jahren zwischen 1950 und 1980. Mein Terminplan ist damit gut gefüllt. Diese Musikauftritte habe ich nummeriert. Heute Nachmittag (Donnerstag, 18. Oktober) musiziere ich bereits zum 189. Mal unentgeltlich. Angefangen damit habe ich damit am 1. Januar 2010. Neben den Heimen unterhalte ich auch an privaten Anlässen. Weiterhin Musik zu machen ist mein Hauptziel. Den Rest lasse ich auf mich zukommen.