Erschienen in der Luzerner Rundschau, 20.04.2013
Daniel Mezgers Schauspiel „Nachruf oder Jung sterben hat mich auch nicht besser gemacht“ wird zurzeit im UG des Luzerner Theaters uraufgeführt. Das Stück, in dem sich der Autor selber in das Reich des Todes schreibt, ist in gewisser Weise als Zangengeburt des Zuschauers zu deuten, der selber für die Geschichte verantwortlich wird.
Die Geschichte, sie wäre eine einfache: Ein Mann stirbt. Seine Freundin Mira (Juliane Lang) bleibt zurück. Mark (Hans-Caspar Gattiker), wohl ein Freund, ebenfalls. Beide tragen pompöses Schwarz (Kostüme Silvana Arnold), sie ein ausladendes Wittwenkleid, er ein gerüschtes Hemd. Dazu gesellt sich, zur Überraschung von Mira, eine weitere Frau: Ann (Daniela Britt). Sie, die seit zwei Jahren eine geheim gehaltene Affäre zum Verstorbenen pflegte, taucht zur Beerdigung auf. Auch sie trägt Schwarz, aber eine körperbetonte Corsage. Mira trauert kaum, steckt dafür ihre Energie in das Stalken von Ann und suhlt sich im Wahn der Eifersucht und in der traurigen Erkenntnis, dass man den Anderen wohl nie richtig kennen kann. Mark bleibt hingegen unfassbar, flattert und zappelt im Wahn (der Trauer?) über die Bühne. Ann ist die einzige, von der man behaupten könnte, dass sie „angemessen“ trauert. Weil sie einen Mann zu Hause hat, der von alledem aber nichts weiss, verlegt sie das Traurigsein in den Waschsalon – dort findet sie Ruhe und Einsamkeit. Wenn Mira sie nicht verfolgen würde. Ann, die den verstorbenen bereits entlarvt kannte und in gewisser Weise selber das Leben einer Larve führte, trauert fern des Wahnsinns, den Mark und Mira eint. Nicht der Tod, sondern die Dekonstruktion des Verstorbenen, den man zu glauben kannte, der Illusion, scheint so wahnsinnig schwierig zu sein. Daniel Mezger will in „Nachruf“ aber alles andere als eine Geschichte erzählen. Schon gar keine runde. Denn der tote Mann, das ist er selber, Daniel Mezger, Jahrgang 1978, der Autor, auf der Bühne gespielt von Clemens Maria Riegler.
Der Tod des Autors? Ebenso heisst ein literaturtheoretischer Aufsatz von Roland Barthes, der im Jahr 1967 erschien. Es geht Mezger also kaum um den Tod an sich, sondern um den Tod des Autoren. In gewisser Weise um den Tod der Erzählinstanz. Mit dem Autor stirbt auch der Regisseur, hier Pedro Martins Beja, der das Stück in Luzern inszeniert – er hätte aus der Vorlage Mezgers eine runde Geschichte machen können, das wollte er zu Recht nicht. Das Stück, das sich daraus ergibt, ist sperrig, es entwickelt eine Eigendynamik, franst aus, gleitet aus der Hand, bleibt unzugänglich. Der Autor, der die Geschichte zusammenhält, ist weg. Er hinterlässt eine Lücke – in der „Geschichte“ zieht der Tod des Autors Mira, Ann und Mark den Boden unter den Füssen weg. Besonders Mira, die glaubte, ihren Freund, den Autor, zu kennen, ist hilflos. Desillusionierung und Wahnsinn scheinen nahe beieinander zu liegen. Der Autor hat Sinn gestiftet, Halt gegeben, obwohl, oder gerade weil ihn niemand komplett durchschaut hat. Mit dem Autor ist auch die Projektion des Autoren gestorben. Die Illusion eines Menschen, den man nie in allen Facetten durchschauen kann. Das Urvertrauen.
Dem Autor hingegen fällt eine schwere Last von den Schultern. „Oh happy day!“ dröhnt es aus den Lautsprechern, „nie mehr Schreibblockade“ schreit er tanzend, gar ekstatisch jubelnd. Er hat keine Angst mehr, zu früh und mit zu wenig „output“ zu sterben. Trägt keine sinnstiftende Verantwortung mehr. Nur die Sprache spricht! Der Autor, nichts als ein Jongleur mit Buchstaben und Wörtern, die es längst gibt! Die Figuren entziehen sich ihm, er trägt keine Verantwortung mehr für sie. Der Leser ist geboren. Oder wie Barthes zum Abschluss seines Aufsatzes schreibt: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ Die Last der (runden) Geschichte, sie ruht nun auf den Schultern des Lesers bzw. des Zuschauers.
So muss sich der Zuschauer, womöglich irritiert und genervt ob der dauernden Qualmerei (Trauernde und Autoren muss man sich als rauchende Zeitgenossen vorstellen), dem wahnsinnigen Geschrei und der, auch wenn höchst ästhetisch einem Gemälde gleich, aber doch zur Schau gestellten Nacktheit von Mark, gar selber eine Geschichte aus all den Eindrücken zusammenstellen. Oder aber er lässt sich von der Musik und der visuellen Eigenwelt auf der Bühne (Viola Valsesia) treiben, wobei er aber vom Geschrei und Gezappel der Schauspieler immer wieder jäh aus der Kontemplation gerissen wird. Die Bühne trennt den Raum in drei Sphären, die je selber wieder Projektionsflächen für die Liveaufnahmen sind und die Dekonstruktion konsequent fortsetzt, bis die Sphären ganz aufgehoben sind und auch die Rollenaufteilung zwischen Schauspieler und Zuschauer plötzlich unklar scheint. Es ist dies nichts weniger als die Geburt des Zuschauers, eine Zangengeburt sehr wohl, aber doch: eine Geburt! Er steht jetzt in der Verantwortung. Er wird, ganz im Sinne des Konstruktivismus, selber zum Autor dieses Stückes, seines Lebens. Es gibt keine Illusion mehr, an der er sich halten kann, es gibt nur noch ihn. Der Autor ist tot, es leben die Autoren!
Und vielleicht ist es durchaus im Sinne von Daniel Mezger und Pedro Martins Beja, dass man sich nach der Vorstellung etwas mehr Autor und Regisseur wünscht. In gewisser Weise haben sie mit dem Stück eine Lanze für sich selber gebrochen. Denn ohne Autor, ohne Halt, scheint der Mensch dem Wahn bedrohlich nahe.