Mit dem Fahrrad von Vancouver nach Tijuana
Bilder und Blogeinträge: veloway.wordpress.com
Schreiben hat nur scheinbar mit der
Peter Bichsel
Beschreibbarkeit der Welt zu tun.
Ihre Unbeschreibbarkeit macht uns
zu Schreibern, zu Erzählern.
„I wanna know more about your trip“, ruft uns Doug auf seinem Rennrad zu. In der Hand hält der ca. 30jährige Amerikaner eine Plastiktüte, darin: drei kühle Bier. Eine halbe Stunde zuvor hat er uns über die Abfahrtszeit der Fähre nach Port Townsend informiert. Nun möchte er mehr über unsere Reise wissen. Schwatzend geniessen wir das Bier, fachsimpeln über Fahrräder und die gemeinsame Leidenschaft für Passfahrten. Unterbrochen werden wir erst von der andockenden Fähre.
Begegnungen wie diese sind charakteristisch für das Reisen mit dem Stahlross, das bei fast jedem Menschen eine Assoziation weckt. Vorstellbares und Unvorstellbares vermischen sich beim Anblick eines mit vier Taschen beladenen Rennrades. Immer wieder werden wir gefragt, wohin wir fahren, woher wir kommen und wie viele Kilometer wir am Tag zurücklegen. Eine Komfortzone gibt es nicht, das Rad hat kein abschottendes Chassis wie ein Auto. Dafür fühlt, spürt, riecht, schmeckt und hört man die Umgebung, kommt mit Leuten ins Gespräch und ist der Landschaft und dem Wetter im Guten wie im Schlechten ausgeliefert – und schafft im Vergleich zum Wanderer spielend grössere Distanzen.
Vier Tage zuvor sind wir in Vancouver BC gestartet. Die ersten Tage sind ein akklimatisieren, ein herantasten. Wir gewöhnen uns an kleine und grosse Strassen, staunen ob der imposanten Kulisse mit dem Mount Hood, der weiss aus der Ferne hervorsticht und versuchen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Kontakt mit Menschen haben wir kaum.
In Sidney verlassen wir die kanadischen Strassen und erreichen per Fähre Friday Harbor auf San Juan Island, die Hauptinsel der gleichnamigen Inselgruppe im Staat Washington. Das Prozedere am Grenzposten ist erstaunlich unkompliziert: Formular ausfüllen, Fingerabdruck und Irisbild machen lassen und ab auf die Fähre. San Juan Island ist ein hügeliges Fahrradparadies mit grünen Wiesen, Seen, der omnipräsenten Küste und wenig Verkehr. Unser Zelt stellen wir im San Juan County Park auf der Westseite der Insel auf und beobachten einen farbengewaltigen Sonnenuntergang.
Wir fahren nach Tacoma. Die Hafenstadt ist auf grosse Autos ausgelegt, deren Marken man zwar allesamt kennt, aber deren Modelle man auf Europas Strassen nie zu sehen bekommt. Wir erreichen sie auf der Autobahn, den Fussgänger- und Radweg der Tacoma-Narrows-Brücke, die 1940, nur vier Monaten nach der Eröffnung spektakulär einstürzte, haben wir verfehlt. Zum Glück bleibt neben den vorbei rauschenden Autos auf den vier Fahrspuren noch Platz für zwei wie verrückt in die Pedale tretende Radfahrer.
Tacoma ist unser Sprungbrett zu Familienmitgliedern in der Nähe von Spokane, das ganz im Osten von Washington liegt und von Seattle aus per Bus zu erreichen ist. Die Stahlrösser lassen wir zehn Tage ruhen. Unseren leicht geschundenen Hintern kommt diese Pause gelegen.
“Help me, I am Amanda Berry … I have been kidnapped and I have been missing for 10 years.” In Cleveland werden drei junge Frauen aus zehnjähriger Gefangenschaft befreit. Die Fernsehkanäle und Zeitungen sind gefüllt mit der Geschichte, sogar in der Schweiz. Im Fokus steht, neben Opfern und Täter, der Afroamerikaner Ramsey, der Berry befreite. In einem Fernsehinterview erklärt er: „Bro, I knew something was wrong when a little pretty white girl ran into a black man’s arms“. Ramsey wird zum Helden: „Free burgers for life for Ohio kidnap case hero“.
Erholt und motiviert steigen wir zurück auf unsere Räder, passieren die Narrows-Brücke konform auf dem Radweg und radeln via Shelton zurück an die Küste nach Westport. Auf dem Weg machen wir Bekanntschaft mit dem nassen Klima, welches die Küstenregion im Nordwesten prägt. In Westport ziehen wir einen Ruhetag ein, geniessen die Meeresbrise und lassen uns beim Griechen oral (Gyros und Austern griechischer Art) und verbal („anything else i can get for you, honey?“ und „thank you sweetie!“) liebkosen. Der kleine Ort ist erstaunlich lebendig, auch weil gerade ein Surfbewerb und ein Wettfischen stattfinden. Im Hafen bestelle ich einen Espresso und bekomme den grössten Latte, den ich je vor mir stehen hatte. Der amerikanische Kaffee gehört zu jenen Tücken, mit denen man irgendwann umzugehen weiss. Der „double shot americano“ mit wenig Wasser ist ein sicherer Wert. Zu mehr wage ich mich nur noch, wenn der Barista vertrauenswürdig aussieht.
„Press spying scandal could be Obama’s Watergate“. Die Obama Regierung hat die Nachrichtenagentur AP monatelang überwacht. Der Abhörskandal nimmt seinen Lauf, noch bevor von Edward Snowden die Rede ist.
Die Menschen an der Nordwestküste erscheinen uns als geerdet, offen und gastfreundlich. Die Freiheit, Amerikas oberstes Gebot, manifestiert sich in allen Bereichen des Lebens. Im Alltag in der Allgegenwärtigkeit einer Auswahl. Small, medium oder large? India Pale Ale, Pale Ale, Pilsner, Red Ale oder Stout? Fried, Scrumbled oder sunny side up? Whole wheat, rye oder sourdough? Cheddar, Jack oder Swiss? Keine Bestellung, ohne vor eine Wahl gestellt zu werden. Auch wenn das Classic oder das House Special bestellt wird.
Freiheit im Geiste, wie sie die Menschen im Nordwesten leben, heisst hingegen eine kritische bis pessimistische, zuweilen gar verschwörungstheoretische Haltung gegenüber dem Staat und den grossen Firmen zu haben. Ihnen trauen sie alles zu. Auch Überwachung. Darum ist kaum jemand von den Abhörmethoden der Regierung überrascht. Mehr als einmal wird uns erklärt, warum der Staat die Menschen in die Städte lockt: Weil das Volk dort einfacher zu kontrollieren sei.
Freiheit bedeutet dann Do-It-Yourself. Der eigene Garten ist ein Statement gegenüber dem Lebensmittelriesen Monsanto. Fresh, local oder organic sind keine Lifestyle-Floskeln, sonder pure Überzegung. Das Leben politisch.
In Ilwaco treffen wir Jim. Seit seiner Frühpensionierung ist der Erdboden seine Leidenschaft. Der Erdboden, sagt er, sei flächendeckend krank, werde ausgelaugt und vergiftet. Die unrühmliche Folge: Wir alle werden mit Nahrungsmitteln überschwemmt, die auf diesem Boden wachsen, die keinen Geschmack und keinen Nährwert besitzen und die deshalb anfällig auf Krankheiten sind, weswegen sie weiter mit Gift vollgepumpt werden. Kranke Nahrung wiederum mache auch den Menschen krank. Sein Allheilmittel: Selbstversorgung und Biochar, auch Pflanzenkohle oder terra preta genannt. Er stellt sein Biochar selber her und vertreibt es in kleinem Masse. Pflanzenkohle wird dabei durch Verkohlung rein pflanzlicher Ausgangsstoffe hergestellt und gilt, meist vermischt mit Kompost, als Bodenverbesserer. The book is gonna be rewritten ist Jim‘s meist gesagter Satz. Verändere das, was du im Stande bist zu verändern, überzeuge andere von deinem Weg und schreibe so das Buch neu.
Es regnet, wir helfen beim Abfüllen von Biochar und fahren im Pick-Up mit, um die Beutel einem kleinen Gartenunternehmer am 180 Kilometer entfernten Black Lake vorbeizubringen. Sie machen sich Gedanken über die Verbreitungsstrategie – und sind sich uneinig. Jim möchte in einem Gartencenter verkaufen, sein Kollege hingegen sieht nicht, wie Jim es schaffen soll, mehr zu produzieren. Wir fahren wieder zurück, kaufen unterwegs Spareribs für den kleinen Hunger und eine Barbecueplatte für das Nachtessen zu Hause. Auch Selbstversorgung hat Grenzen.
Nur 55 Kilometer südlich, inzwischen im Staat Oregon, treffen wir Ingrid. Das kleine Energiebündel mit den blonden Locken ist vor drei Jahrzehnten aus der Schweiz ausgewandert und lebt alleine mit ihrem Hund, den Katzen, den Hühnern, den Schafen, dem Garten und der Natur in ihrem Hexenhäuschen samt Umschwung. Ihr Geld verdient sich die frischgebackene Grossmutter als Gärtnerin. Die Schafe schlachtet sie eigenhändig mit einem langen Messer. Vor Jahren hat sie auf Ihrem Land einen Elch geschossen und zu Trockenfleisch verarbeitet. Durch ihr Grundstück fliesst ein Bach, aus dem sie ihr Trinkwasser gewinnt, neben dem Bach hat sie sich eine Schwitzhütte gebaut. In der Scheune findet einmal im Jahr ein grosses Fest inklusive Live-Musik und Tanzboden statt.
Wir bleiben eine Woche, fahren abends mit der quirligen Frau nach Cannon Beach, um in einem Lokal zu Folk und Country das Tanzbein zu schwingen. Ihre Country Stiefel schwingt Ingrid tatsächlich in regelmässigem Abstand bis über ihren Kopf. Sie hopst und tanzt und schnappt sich jeden potentiellen Tanzpartner, notfalls auch einen kleinen Jungen, um ihren Bewegungsdrang zu befriedigen. In diesem kleinen Ort am Meer mit weniger als 2000 Einwohnern spielt fast an jedem Abend eine Band Live-Musik. Das touristische Dörfchen ist vor allem für den Haystack (Heuhaufen), einen unverwechselbaren, 72 Meter hohen Felsen an der Küste bekannt.
Nach einem Konzert sprechen wir mit einem Musiker. Bill ist 40 Jahre alt und trägt langes, dunkles Haar. Er ist ein Lebenskünstler, der sich mit der Musik irgendwie über dem Wasser hält. Wir kommen auf das Waffengesetz zu sprechen und werden nach einer kritischen Bemerkung an die Wand argumentiert. Die Freiheit, eine Waffe zu besitzen, müsse historisch gesehen werden. Sie gebe dem Volk Macht gegenüber dem Staat. Bewaffnet lasse das Volk sich nicht tyrannisieren, könne sich wehren. Und warum gerade wir das nicht verstehen können? Bei uns in der Schweiz hätte doch auch jeder Mann ein Gewehr zu Hause stehen. Das sitzt.
Draussen schüttet es seit Tagen Bindfäden – das klassische Frühlingswetter der Region. Übers Wochenende fahren wir mit dem Bus nach Portland, 100 Kilometer ins Landesinnere. Die Stadt ist überschaubar, fussgänger- und fahrradfreundlich. Aber auch ungehobelt und echt – keep Portland weird ist nicht umsonst das Motto der Stadt. Wir geniessen es, all die Mikrobrauereien und Kaffeeläden, die Musik und die Kunst zu Fuss zu erkunden. Uns beschäftigen die vielen jungen Obdachlosen, die drogenabhängig sind und auf der Strasse leben. Abends liegen mindestens 50 von ihnen in den Schlafsäcken, schön aneinandergereiht, unter einer Brücke.
Zurück an der Küste radeln wir weiter in Richtung Süden. Wir geniessen die Luft von hinten und bemitleiden alle Tourenradfahrer, welche uns kreuzen und gegen den Wind ankämpfen. Auf der Strasse überholen uns unglaublich grosse Wohnmobile und riesige Trucks, die Baumstämme transportieren. Neben Truck und Strassengraben bleibt da oft nicht viel Platz übrig. Wir radeln durch dunkle Tunnel und über enge Brücken in luftiger Höhe, sind froh, dass wir davor einen Knopf drücken können, der ein Blinksignal aktiviert und die Autofahrer vor Radfahrer im Tunnel oder auf der Brücke warnt.
Wir passieren Leuchtturm um Leuchtturm. Wobei mir das deutsche Wort zur Hälfte immer wieder entfällt. Aber Leuchthaus (Lighthouse) ist meistens sogar präziser, sehen diese Türme doch oft eher wie Häuser aus. Dann übe ich mich zum ersten Mal im Plattenflicken. Flat – auch so ein Wort, das irgendwann nur noch in Englisch durch den Kopf geistert.
Im Moment des ersten Luftdruckverlustes geht eine Art Urvertrauen verloren. Tausend Kilometer lang verschwende ich keinen Gedanken an das Material. Die ersten Kilometer nach der Reparatur bin ich paranoid, meine Luft zu verlieren und blicke immer wieder umständlich und besorgt auf meine Reifen hinunter. Das Vertrauen in die Reifen muss mühsam wieder aufgebaut werden.
In Newport, decke ich mich mit neuen Reifen ein, denen ich zu vertrauen vermag. Uns gefällt das Küstenstädtchen, wir setzen uns abends ins Café Mundo, trinken zu Live-Country einheimisches Bier aus dem Marmeladeglas (Dead Guy Ale) und machen am Tag eine Ausfahrt ins Nachbarstädtchen und zum Yuaquina Leuchtturm.
Im Kaffee in Port Orford (ca. 1000 Einwohner) fragt eine Frau den Barista, beide etwa dreissig Jahre alt, nachdem sie den Betrag für ihren Kaffee aufschreiben lassen hat, ob er immer noch an einer Ziege interessiert sei. Ich bin fasziniert und will zu Hause unbedingt auch Ziegen haben. Und Hühner. Und einen Garten. Ein kleines, zwar prekäres aber sinnvolles und unabhängiges Leben führen. Fernab vom Alltag scheint alles möglich.
Ich mache mir Gedanken über die Menschen, meine eine gewisse Ambivalenz zwischen Freiheit und Misstrauen zu erkennen und frage mich, ob das eine der Preis des anderen sein könnte. Der grossen Offenheit und Gastfreundschaft, die wir nie als oberflächlich empfunden haben, steht oft ein Misstrauen gegenüber. Ein Misstrauen gegenüber allen anderen. Immer wieder werden wir gewarnt: vor Dieben, vor Psychopathen, vor Bushaltestellen, vor dem Trampen – vor dem Fremden. Dem Amerikaner macht die Freiheit offenbar auch Angst. Wo jeder eine Waffe haben darf, wo uneingeschränkte Meinungsfreiheit gilt, dort traut man dem Anderen womöglich auch alles zu. Der Preis dafür ist das Misstrauen. Zusätzlich geschürt durch Fernsehen und Zeitungen, die gefühlte 24 Stunden am Tag über Verbrechen und Terror im ganzen Land und auf der Welt berichtet. Die Offenheit, so interpretiere ich, ist dabei ein offensiver Versuch, das Gegenüber einzuordnen. Es als „normal“ zu taxieren.
Wir folgen der Küste, radeln und rasten, essen und trinken. Geniessen die Leichtigkeit, das Tagträumen, die Ungebundenheit. Kaum haben wir die Grenze nach Kalifornien passiert, fahren wir in die Wälder der Redwoods. Bis zu 2000 Jahre alte Bäume, so hoch und unumarmbar wie Wolkenkratzer. Nach einem Tag wandern durch den Wald schmerzt der Nacken.
Nordkalifornien ist eine beliebte Tourendestination, wir treffen viele Gleichgesinnte auf den Strassen und den Zeltplätzen. Es entstehen Reisefreundschaften, man freut sich einander wieder zu sehen – oder man setzt einen Tag aus, um den Rhythmus zu durchbrechen und nicht jeden Abend denselben Gestalten beim Aufstellen des Zeltes zu begegnen. Zwischen den Bäumen der Redwoods übernachten wir in Arcata, einer kleinen Studentenstadt mit Hippie-Flair. Wir fragen in einem Fahrradladen nach einer Übernachtungsgelegenheit, die uns der 26-jährige Fahrradmechaniker Dan ohne zu zögern in seiner Studentenbude anbietet.
Arcata liegt im Humboldt County, das insbesondere als Hanfanbaugebiet bekannt ist. Viele Studenten verdienen sich ihr Sackgeld und ihr Gras bei der lukrativen Hanfernte. Wir trinken viel lokales Indian Pale Ale Bier und diskutieren über Gott und die Welt. Wir verstehen uns auf Anhieb. Fast 10 000 Kilometer entfernt von zu Hause teilen wir Gedanken und Leidenschaften. Können an gemeinsames Wissen anknüpfen, Globalisierung und Internet sei Dank. Im Haus ist ein ständiges Kommen und Gehen. Es wird pausenlos Pot geraucht. Bierselig und passiv bekifft fallen wir im Gästebett in der chaotischen Garage früh in einen tiefen Schlaf. Der Rhythmus der Natur hat sich eingeprägt. Das Angebot auf ein Frühstück schlagen wir aus, weil wir um 10 Uhr morgens noch immer die einzigen im Haus sind, die schon Tagesluft geschnuppert haben. Wir frühstücken auswärts und strampeln uns danach das Bier aus den Blutbahnen.
Auf dem Zeltplatz an der Avenue of the Giants treffen wir zwei kurlige Gestalten: Michael und Buddha. Michael, bald 40 Jahre alt, trägt langes blondes Haar, liebt viel Zucker mit wenig Kaffee und ist schwul. Um seinen Hals hängt ein silbernes Kreuz. Der 15 Jahre jüngere Buddha steckt in Dickies Hip-Hop-Klamotten im Arbeitskleiderstil, seine Augen sind rot und klein. Er scheint Michaels rechte Hand zu sein, sucht Holz, macht Feuer, schleppt das Essen. Die beiden schenken uns ein Steak und unterhalten uns an ihrem Feuerplatz im doppelten Monolog. Michael erzählt, dass er von den Strassenkids Beautiful genannt wird und überzeugt ist, die Reinkarnation von Jesus zu sein. Mit einem kleinen Schönheitsfehler: „I forgot how to split water and turn water into wine“. Aber er frage Gott jeden Tag, wie er wieder über Wasser gehen und Wasser in Wein verwandeln könne. Ob Jesus und Buddha, die sich ein kleines Zelt teilen, auch miteinander schlafen, wissen wir nicht. Wir finden die Vorstellung aber irgendwie schön.
Im Gespräch fragt Jesus Buddha immer wieder, ob das und jenes vor oder nach seinem Tod passiert sei. Sein Tod: eine Nahtoderfahrung, die ihm den Glauben an Gott gebracht habe. Die beiden radeln mit billigsten Walmart-Bikes scheinbar ziellos durch die Gegend. Buddha gar mit einem Fixie (einem Eingänger), an dem ein Kinderfahrradanhänger, gefüllt mit unglaublich viel Fressalien, angehängt ist. Sie rauchen non-stop Bong und sind auch härteren Drogen nicht abgeneigt.
Sie geben uns Reisetips, erklären das Notrecht, in einem Supermarkt zu übernachten. Es reiche, zu sagen, dass ein Sturm aufgezogen sei. Und wir sollen unbedingt Foodstamps holen: Auf dem Amt erklären, dass wir am Reisen sind und uns das Geld ausgegangen sei – und wir bekämen 200 Dollar, als Essensmarke einzulösen in fast allen Supermärkten. Wir lauschen gespannt und glauben es kaum, als die beiden am nächsten Abend, knapp 80 Kilometer weiter südlich, ihre Räder auf den Zeltplatz schieben und sich Buddha sofort daran macht, Feuerholz zu suchen.
Nach dem Aufstieg auf den Leggett Hill (606 MüM), dem Dach unserer Tour, geht es mit einer rasanten Abfahrt zurück an die Küste. Die Strasse, geprägt durch ein stetes und steiles auf und ab, führt an kleinen Häuseransammlungen vorbei. Die Küste ist kaum bevölkert. Wir machen halt in Mendocino, der von Michael Holm in den 70er-Jahren besungenen Stadt, die von Alt-Hippies und Touristen bevölkert ist und logieren in einem für unsere Verhältnisse teuren Hotel – dem günstigsten im Ort. Am Abend trinken wir uns mit Cary und John, dem Paar aus Portland, durch die zwei Pubs der Stadt.
Etwas verkatert und unter einer grauen Nebeldecke radeln wir weiter. Das Ziel des Tages haben wir für einmal nach rein phonetischen Kriterien ausgesucht: Gualala. Ein Ortsname, der so wunderbar schön von der Zunge rollt. Wir kommen aber nicht in Schwung. Müde und schlecht gelaunt würden wir am liebsten das Fahrrad stehen lassen und uns in ein bequemes Bett legen. Wir finden keines, machen dafür des öfteren Rast.
Kurz vor Gualala lichtet sich der Nebel. Am linken Strassenrand, leicht erhöht, zieht ein imposantes Gebäude unsere Aufmerksamkeit auf sich. Eine beeindruckende Architektur aus Zedernholz, die sich dem Design der russischen und skandinavischen Stabkirche anlehnt. Das Hauptgebäude, heute Gourmet-Restaurant und Hotel St. Orres, wurde 1927 gebaut. Auf der Wiese hinter dem Hotel befinden sich verschiedene kleine, liebevoll eingerichtete Hütten, die früher zum Teil von Holzfällern und Fischern bewohnt wurden und in denen man heute logieren kann.
Überzeugt, zu wenig Geld für eine Übernachtung dieser Art zu haben, werden wir mit einem Spezialpreis zum Bleiben überzeugt. Am Waldrand gelegen, ruhig, ohne Internet und Handyempfang, mit Blick auf vorbei spazierendes Wild hausen wir in der Wildflower-Hütte. Die Hütte ist ausgestattet mit einer kleinen Küche, einem Holzofen und einer Balkon-Dusche. Der besten Dusche, die man sich vorstellen kann. Das üppige Frühstück wird in einer Holzbox direkt vor die Tür geliefert. Ein rustikaler Luxus, den auch Neil Young schätzte. Er soll, wie uns ein langjähriger Mitarbeiter und nun Gast des Hauses erzählt, regelmässig in dieser Hütte gewohnt haben. Wir hängen einen Ruhesonntag an, denn auch mit dem vergleichsweise gemächlichen Reisetempo auf dem Rad kann man seinem Geist von Zeit zu Zeit entwischen. Wir lassen uns wieder einholen.
Wir nähern uns San Francisco. Das Wetter ist geprägt vom ständigen Kampf des Nebels gegen die Sonne. Ein Kampf, der jeden Tag aufs Neue ausgetragen wird und den die Sonne im Verlauf des Tages meist für sich gewinnt. Die Strasse am Tomales Bay führt an vielen Austern-Zuchten vorbei. Das Gewerbe scheint in Schwierigkeiten zu sein, selbstgemalte „Save our Drakes Bay Oyster Farms“-Flaggen zieren viele Häuser in dieser Region.
Im Samuel P. Taylor State Park, der letzten Campiermöglichkeit vor San Francisco, treffen wir Greg (31) aus Seattle. Der Physiotherapeut mit Barista-Erfahrung hat seine sieben Sachen auf das Fahrrad gepackt und möchte sich, seiner Intuition folgend, eine neue Existenz in Colorado aufbauen. Sein Fahrrad inklusive Gepäck wiegt rekordverdächtige 65 Kilogramm. Tourenerfahrung hat er keine. Als Jugendlicher sah er in einem State Park in den Redwoods zum ersten Mal Radreisende. Das Bild sei ihm geblieben. 15 Jahre später macht er sich mit dem Rad auf in einen Staat, in dem er noch nie war. Wir bewundern seinen Mut – und seinen Kaffee. Mit einer Handmühle mahlt er Kaffeebohnen und zaubert mit einem Reisefilter einen erstklassigen Kaffee in die Tasse.
Kaum haben wir den State Park verlassen, befinden wir uns im urbanen Vorgeplänkel San Franciscos. Einer Betonwelt, die wir uns nicht mehr gewohnt sind. Rotlichter, Autos, Häuser, Menschen, Konsum – Reize noch und nöcher. Dann, um die Ecke in Sausalito: Der erste Blick auf die Golden Gate Bridge und die Skyline der Stadt.
At the Golden Gate
Lawrence Ferlinghetti
A single plover far at sea
wings across the horizon
A single rower almost out of sight
Rows his skull into eternity
And I take a buddha crystal in my hand
And becoming pure light
Das Glück eines nebelfreien Tages auskostend staunen wir ob der Aussicht und machen Touristenfotos. Die Fahrt über die Brücke ist anstrengend: Unzählige Fussgänger und Mietradfahrer, der starke Seitenwind und der Lärm der vielen Autos erfordern volle Aufmerksamkeit. Von der Aussicht auf die Stadt bekommen wir nicht viel mit.
Wir bleiben zwei Nächte, steigen im Westen der Stadt in einem schmuddeligen Motelzimmer ab. Die Türspälte sind am Rand von Innen mit Klebeband notbedürftig abgedichtet. Wir haben Bedenken bezüglich der Sicherheit, welche die junge Dame indischer Abstammung an der Rezeption aber nicht teilt.
Am Sonntagmorgen verlassen wir die Stadt im dicken Nebel. Ein Nebel, nass wie der Monsun. Nach zwei Tagen verzieht sich das Nassgrau. In Santa Cruz beobachten wir, wie Delphine wieder und wieder am Horizont aus dem glitzernden Meer springen. Wir radeln weiter, an riesigen Erdbeerfeldern vorbei. Die Ernte hat soeben begonnen, ein betörender Duft liegt in der Luft. Schon früh Morgens stehen Männer und Frauen lateinamerikanischer Herkunft in Gruppen zu ca. zwei Dutzend in langer Kleidung und mit Mundschutz auf den Feldern. Jede Gruppe hat einen eigenen Wagen mit mobilen Toilettenkabinen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen pflücken in gebückter Haltung die reifen Früchte. Gegen Mittag dürfte die Hitze in diesen Gewändern kaum mehr auszuhalten sein. Dieses Bild der gebückten, schwitzenden Arbeiter kann ich beim Anblick einer Erdbeere kaum mehr ausblenden.
Im abendlichen Sonnenlicht von Monterey trinken wir ein Feierabendbier mit Tim. Da wir das in der Öffentlichkeit tun, verhüllen wir die Bierflaschen mit Papiertüten. Tim, bald 40 Jahre alt, haben wir auf der Strasse getroffen und sind dann zusammen weitergeradelt. Er wohnt in Oakland bei San Francisco und gönnt sich ein paar Tage Auszeit auf dem Rad. Seine gesicherte Existenz hat er vor einem Jahr gegen eine Ausbildung in alternativer Medizin getauscht. Das Studium beansprucht in sehr, er muss viel lernen und der Umgang mit seinen jungen Mitstudenten fällt ihm nicht leicht. Für Sport habe er seither kaum mehr Zeit. Er, der sich früher in Triathlon-Wettkämpfen gemessen hat, erhofft sich von seinem Ausflug auch das eine oder andere purzelnde Pfund.
Über den Seventeen Mile Drive (eine berühmte, malerische Privatstrasse) geht es am nächsten Tag dem Big Sur entlang zum Pfeiffer Big Sur State Park. Die Strassen und Brücken am mystisch schönen Küstenabschnitt sind voll von Sportwagen und Motorradfahrern mit GoPro-Kameras auf dem Helm. In einer Hütte unter einer dieser Brücken hat Jack Kerouac am 21. August 1960 die „Sounds of the Pacific Ocean at Big Sur“ aufgeschrieben und schier seinen Verstand verloren.
Wir machen einen letzten fahrradfreien Tag. Weit davon entfernt, verrückt zu werden, wandern wir durch den Wald, in sicherer Entfernung zum tosenden Meer.
Shoo––Shaw––Shirsh––
Jack Kerouac
Go on die salt light
You billion yeared
Rock knocker
Gavroom
Seabird
Gabroobird
Sad as wife & hill
Loved as mother & fog
Oh! Oh! Oh!
Sea! Osh!
Where’s yr little Neppytune
tonight?
Südlich vom Big Sur sind die Strände dauerbevölkert. Im Meer wimmelt es von schwarzen Punkten, die von Zeit zu Zeit auf einer Welle dem Strand entgegen surfen bevor sie unter Wasser gespült werden und für kurze Zeit verschwinden. Dann beginnt das Spiel von vorne. Am Strand braungebrannte und durchtrainierte Körper.
Im Schatten werden ungewöhnliche 40 Grad Celsius gemessen. Es wehen Windböen, heiss wie Luft aus dem Föhn. In Shell Beach, nur kurz vor unserem Tagesziel, spricht uns ein junger Mann auf einem Mountainbike an. „Do you need a place to stay?“, fragt er. Falls ja, sollen wir vorne im Park warten, bis er von seiner Bike-Tour mit seinen zwei Freunden zurück sei. Wir sind perplex (und im Hitzedelirium), sagen zu und warten auf unseren Gastgeber, von dem wir noch nicht einmal den Namen wissen.
Wir werden nicht enttäuscht. Nach einem Schwumm im Meer, das nun allmählich Badetemperatur erreicht, geniessen wir es, unseren Gastgeber Land und seinen Buddy Ryan zu bekochen. Nach fast zwei Monaten Picknick und Restaurants ist das eine willkommene Abwechslung. Land ist erst kürzlich von einer Radreise nach Mexico City nach Hause gekommen. Seither spricht er alle Tourenfahrradfahrer auf der Strasse an. Wir schlafen im Ehebett seiner Eltern, die in den Ferien sind (und hoffentlich, zumindest für diese eine Nacht, auch dort bleiben).
In Solvang ist es sonnig und heiss und wir sind froh, schon am Mittag am Ziel zu sein. Solvang wurde 1911 von einer Gruppe dänischer Pädagogen gegründet und nennt sich stolz dänische Hauptstadt Amerikas. Man fühlt sich dank der durchgängig dänischen Architektur und all den dänischen Bäckereien und Restaurants tatsächlich ein bisschen wie in Dänemark. Wenn die Autos nicht wären. So viele Autos in einer so kleinen Stadt (5300 Einwohner) haben wir noch nie gesehen. Das ist undänisch und uncool. Auch die dänische Küche ist ein Mix von nordeuropäischen Gerichten. Ich bestelle in einer Kneipe einen Wurstteller mit Sauerkraut. Darauf befindet sich laut Menükarte auch eine Swiss Bratwurst, die aber von der German Knockwurst und der Polish Sausage nicht eindeutig zu unterscheiden ist.
In Santa Barbara zählen wir auf die Vorzüge des amerikanischen Frühstücks. Dieses ist wie gemacht für den kalorienverbrennenden Fahrradreisenden. Ich wollte auf meiner to-eat-Liste die Gravy abhaken. Serviert wird die Bratensauce meist über „biscuits“, weichen weissen Brötchen. Oder als Sauce zu jedem anderen erdenklichen Frühstück. Ich esse ein paniertes Steak mit Gravy, zwei Eiern und Kartoffeln. Was bleibt ist ein ungutes Gefühl im Magen. Das war dann wohl doch zu viel des Guten. Schleppend rollen wir die wenigen Kilometer nach Carpinteria zum State Beach.
Als wir eintreffen ist die Polizei vor Ort. Ein Mann wird am Rand des Zelt-Bereichs festgehalten. Vor einem in sich zusammenfallenden Zelt steht eine ungepflegte, ältere Frau. Ihre Habseligkeiten nehmen zwei Tische in Anspruch. Der dritte und letzte Tisch ist mit Matratzen und Gerümpel überstellt, am Baum daneben hängt ein Zelt.
Die State Parks im Süden haben offensichtlich ein Problem mit den Obdachlosen auf den schlichten Zeltplätzen, die hier Hiker/Biker sites heissen und ziemlich günstig sind. Einige Parks haben darum das Angebot aufgehoben, andere machen die Sache komplizierter. Das heisst dann Einchecken erst ab 16 Uhr, Aufenthalt maximal zwei Nächte und im Vergleich zu anderen Parks eine höhere Gebühr. Erfolgreich scheinen diese Massnahmen aber nicht zu sein. Das hat sich offensichtlich auch bei den Tourenfahrern herumgesprochen, die wir höchstens noch auf der Strasse antreffen. Wir fühlen uns nicht besonders sicher, picknicken am Strand und verkriechen uns früh in unser kleines Universum. Die Dunkelheit ist für den Schlaf.
Das Licht für das Radeln. Noch vor den ersten Sonnenstrahlen haben wir den unwirtlichen Zeltplatz verlassen und pedalen der Küste entlang. Vorbei an Malibu, dem wohl längsten Jetset-Ort der Welt, der sich über 34 Kilometer erstreckt. In Santa Monica erreichen wir den Grossraum Los Angeles. Der Radweg schlängelt sich über den Venice Beach.
Im Motel, einige Kilometer vom Strand entfernt, schaffe ich es, im Wirrwarr zwischen zwei Fernbedienungen auf Anhieb den Gestöhnkanal freizuschalten, nicht aber auf das normale Programm zu wechseln. Wir gucken nicht länger in die Röhre und stillen unseren Hunger mit einem Burger in einer nahegelegenen Bar.
„Juror Says Zimmerman Had Good Intentions But Went Too Far“. Ein Prozess beschäftigt Amerika. Angeklagt ist George Zimmerman (29). Das Mitglied einer Nachbarschaftswache in Florida erschoss am 26. Februar 2012 den unbewaffneten, 17-jährigen Afroamerikaner und Highschool-Schüler Trayvon Martin. Zimmermann verfolgte den jugendlichen, weil er verdächtig ausgesehen habe. Als Begründung gab er Notwehr an.
„We can put a black man in the White House but we cannot walk a black child through a gated neighbourhood“.
Zimmermann wird freigesprochen. Nach dem Urteil gibt es Krawalle und Protestkundgebungen in verschiedenen Städten.
Die Fahrt in den frühen Morgenstunden durch die schier endlosen Strassenschluchten Los Angeles ist auch vor dem grossen Morgenverkehr kein Leckerbissen, aber durchaus sicher. Einen Radweg sucht man vergebens. Wir fliegen, kaum lassen wir den Asphaltdschungel hinter uns, richtiggehend den Surferstränden entlang und können uns unmöglich vorstellen, schon bald nicht mehr jeden Tag auf dem Rad zu sitzen. Nichts kann uns bremsen, keine Distanz scheint mehr zu gross.
Einen Zugang zu den Menschen im Süden Kaliforniens finden wir kaum. Kontakte bleiben an der Oberfläche haften, falls es überhaupt zu Kontakten kommt. Die Masse macht anonym, denken wir. Die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt, durchtrainiert und braungebrannt, wo nötig chirurgisch optimiert und unpolitisch. Fresh, local und organic gibt es auch hier, aber in Form eines Lifestyles, den man sich einverleibt.
Am amerikanischen Nationalfeiertag erreichen wir in Encinitas den südlichsten State Park mit Campground an der Westküste. Die Strände sind überfüllt. Alles ist Blau-Rot-Weiss; der Bikini, die Shorts, Statuen und Wohnmobile. Am Abend zieren Feuerwerke den Himmel. Uns lässt das Geknalle kalt – wir denken an die bevorstehende letzte Nacht im Zelt und an den nächsten Tag. Tijuana liegt nur noch 70 Kilometer entfernt.
Am letzten Tag unserer Radreise summt Manu Chao im Kopf „Welcome to Tijuana“ in Endlosschleife. Wir passieren San Diego um halb zehn und erreichen die Grenze in San Ysidro kurz nach 11 Uhr. Vor der Grenze steht ein riesiges Einkaufszentrum mit vielen Outlet-Malls. Dahinter die Mauer, gross und unübersehbar, die Amerika und Mexiko trennt und sich scheinbar willkürlich durch die Landschaft schlängelt.
Wir wollen hinter die Mauer. Fast alle Menschen, die wir auf der Reise getroffen haben, haben uns davon abgeraten. Zu gefährlich sei es in Tijuana, dem Vorort der Hölle. Und dann auch noch mit dem ganzen Gepäck. Wir glauben aber, den Grenzübertritt als würdigen Abschluss unserer Reise zu brauchen und gelangen per Fussgängerweg auf die andere Seite der Mauer. Ohne einen Pass zu zeigen, ohne kontrolliert zu werden, ohne überhaupt zu begreifen, gerade eine Grenze passiert zu haben. Dann fällt uns die endlos lange Menschenschlange in die entgegengesetzte Richtung auf. Wir ahnen Böses, machen uns aber zunächst in Richtung Zentrum auf.
Tijuana ist ein wahrer Kulturschock. Es ist unglaublich, wie anders das Leben innert weniger Radumdrehungen gelebt wird. Wir fahren auf der Brücke über den Kanal „El Bordo“. Ich sehe, wie ein Mann im ausgetrockneten Flussbett seinen Darm entleert und sogleich die Hose hochzieht. In diesem Kanal leben schätzungsweise 3000 Menschen in Gängen, Höhlen, Zelten und der Kanalisation. Die meisten von ihnen wurden aus Amerika abgeschoben und versuchen immer und immer wieder in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zurückzukehren. Sie fristen dort im Sumpf der Drogen und der Kriminalität ein trauriges Dasein.
Wir sehen Bettler an jeder Ecke, „Reinschmeisser“ vor jedem Lokal und überall wird versucht, uns etwas anzudrehen. Wir bleiben auf den Touristenpfaden, schieben unsere Räder in die Avenida Revolucion, der bekanntesten Ramschstrasse, wo wir Tacos essen und Corona trinken. Unsere bepackten Stahlrösser dabei so nah wie möglich. Wir werden in ein wirres Gespräch mit einem älteren Herren verwickelt. Zwei jüngere Männer beobachten uns Grimassen schneidend, nur um uns später Gringos zu nennen. Irritiert radeln wir zurück zur Grenze.
Der Grenzübergang zwischen Tijuana und San Ysidro ist der meist frequentierte Grenzübergang der Welt. Jedes Jahr passieren dort über 30 Millionen Grenzgänger die Kontrolle, mehrheitlich von Mexiko nach Amerika – und mehrheitlich in einer Prozedur, die mehrere Stunden dauert. Wir stellen uns artig hinten an und staunen ob der Ruhe und Disziplin der Menschenmenge. In der brütenden Hitze ohne Schatten werden Eis, Getränke und Churros verkauft.
Wir fragen nach der Wartezeit – geschätzte 2 Stunden – und beobachten, wie Reiseleiter immer wieder Menschen aus der Schlange führen. Nach 30 Minuten erkundigen auch wir uns nach einer Alternative zum Schlange-Stehen und nehmen ein Angebot für sechs Dollar pro Person an. Ohne zu wissen, auf was wir uns einlassen, werden wir in die Busspur geführt, laden unsere Räder inklusive Gepäck in den Bauch eines Reisecars ein und bezahlen den abgemachten Betrag. Im Car hat es zwei freie Sitzplätze, einer vorne und einer hinten. Der klimatisierte Car bewegt sich im Stundentakt. Bewegungsradius: einige Meter. Uns ist mulmig. Immerhin kommen dauernd Verkäufer oder Bettler vorbei, womöglich ein Zeichen der Normalität. Ich mache mir Gedanken, wo wir wohl den Bus verlassen können. Gehe davon aus, dass wir mit dem Bus über die Grenze fahren, irre mich aber: Die Cars und Busse laden ihre Passagiere direkt vor der Grenzkontrolle ab, wo sie in einer speziellen Spur zur Passkontrolle geführt werden. Nach drei Stunden im Bus hat das Warten endlich ein Ende. Die Wiedereinreise in die Staaten verläuft reibungslos. Einzig die beiden Pflaumen in der einen Tasche mussten in Mexiko bleiben, obwohl sie aus Amerika kamen.
Kurz nach 17 Uhr ist unser kleiner Lunchstopp in Tijuana beendet und wir radeln zurück nach San Diego. Nach einem Nachtessen in einer kleinen Brauerei verkriechen wir uns schlafselig in das schuhschachtelgrosse Hotelzimmer und fallen in einen tiefen Schlaf.
Bei Espresso und italienischem Gebäck tags darauf in Little Italy von San Diego scheint die Mauer unwirklich und fern. Die Stadt überfordert. Flatterhaft springt die Aufmerksamkeit von Reiz zu Reiz. Wir verlieren uns in der Masse, im Konsum. Erinnerungen werden bruchhaft und nebulös. Das Sein ein Schein.
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