Eine Seminararbeit zum Seminar „Überwachungsformen der Spätmoderne“
„Informationsgesellschaft ist, wenn jede Information nur Sekunden entfernt ist, überall und jederzeit“, schreibt Roberto Simanowski (2014) in seinem Buch „Data Love“ und folgert: „Wir leben in der Informationsgesellschaft“ (S. 8). Diese Informationsgesellschaft hat Jean-François Lyotard (1986) bereits 1979 skizziert und darin den Begriff des postmodernen Wissens geprägt. Er beobachtete eine Transformation des Wissens, die sich aufgrund der technologischen Entwicklungen anbahnte:
In dieser allgemeinen Transformation [ausgelöst durch die Vervielfachung der Informationsmaschinen] bleibt die Natur des Wissens nicht unbehelligt. Es kann die neuen Kanäle nur dann passieren und einsatzfähig gemacht werden, wenn die Erkenntnis in Informationsquantitäten übersetzt werden kann.
Lyotard 1986: S. 22f.
Informationen und Überwachung sind in diesem Kontext kaum zu trennen. Die Informationsgesellschaft, von der Simanowski spricht und in der wir leben, muss auch eine Überwachungsgesellschaft sein, da die Überwachung den ordnenden Modus des Umgangs mit Informationen kennzeichnet: Daten werden erst zur Information, wenn sie unter Beobachtung stehen, wenn sie also übersetzt und überwacht werden können. Daten, die ein Handy oder ein Mobilfunkanbieter produziert und speichert, stellen für den Benutzer, der die Daten nicht sieht, keine Information dar. Vielleicht aber für den Hersteller oder den Provider – oder die Polizei, die bei Bedarf auf die Daten zurückgreifen will.
In dieser Arbeit möchte ich mich dem Self-Tracking widmen. Simanowski (2014) beschreibt das Self-Tracking als Vermessung des eigenen Ichs: „Wir […] vermessen […] uns selbst, wenn wir kommunizieren, fernsehen, joggen, essen, schlafen.“ (S. 7f.) Als Motivation bezeichnet Simanowski Selbsterkenntnis und Bequemlichkeit, letzteres insbesondere durch das Internet der Dinge bzw. der smart things, „die uns nur so viel an Bequemlichkeit liefern [können], wie wir ihnen an Informationen über uns“ (ebd.: S. 33). Beide Punkte, die Selbsterkenntnis wie die Bequemlichkeit, bergen ein Potenzial für Optimierung. Die Bequemlichkeit – dank den smart things – in Bezug auf die Organisation des Alltags. Das Sich-selbst-Beobachten hingegen mit Blick auf die gesicherten Daten über das eigene Leben und damit das Potenzial der Selbstoptimierung des Körpers. Wer sich, aus welchem Grund auch immer, in den Kopf gesetzt hat, mindestens 20 Kilometer am Tag zu gehen, kann mittels Schrittzähler und Smartphone genau beobachten, ob das Ziel erreicht wird und gegebenenfalls eine Extrarunde drehen, sollte sie denn nötig sein. Der Vorsatz kann diszipliniert umgesetzt werden, ohne dass man sich dabei auf das noch so unsichere Gefühl verlassen müsste. Ähnlich scheint der Fall beim Ess- oder Schlafverhalten zu liegen. Kaum jemand dürfte sich in diesen Fällen selbst tracken, ohne an eine Optimierung zu denken. Tracken und Überwachen scheinen einander nahe zu stehen. Tracken ist ein Synonym von Verfolgen, und Überwachen definiert sich laut Duden (o. J.) unter anderem dadurch, dass man genau verfolgt, was jemand tut und beobachtend sowie kontrollierend für den richtigen Ablauf einer Sache sorgt. Das legt nahe, Überwachung und Tracking gleichzusetzen, zumal Self-Tracking oft als Selbstüberwachung übersetzt wird (vgl. Simanowski 2014: S. 29, Lange 2014 oder Werle 2014). In den vorangehenden Zeilen vermutete ich, dass Selbstüberwachung per Self-Tracking mit Selbstdisziplinierung bzw. dem Wunsch nach Optimierung einhergeht. Doch stimmt das wirklich? Wie sieht das Verhältnis zwischen Überwachen und Disziplinieren aus? Und was passiert, wenn aus dem Überwachen ein Selbstüberwachen und aus dem Disziplinieren ein Selbstdisziplinieren wird?
(Selbst-)Überwachung und (Selbst-)Disziplinierung
In „Überwachen und Strafen“ beschäftigt sich Michel Foucault (2014 [1977]) mit der Entwicklung der modernen Strafsysteme im Europa des frühen 18. Jahrhunderts. Mithilfe der Gefängnisarchitektur von Jeremy Bentham, dem Panopticon, beschreibt er den Übergang von der feudal-absolutistischen „Souveränitäts-Macht“ hin zu der modernen Disziplinargesellschaft. „Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: Im Aussenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen; im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden“ (Foucault 2014: S. 259). Im Panopticon wird Disziplinierung dadurch gewährleistet, dass ein Wächter im zentral gelegenen Turm in jede einzelne, rund um den Turm angelegte Zelle hineinsehen kann, ohne von den Insassen der Zellen selber gesehen zu werden. Dabei muss der Wächter, da die Insassen ihn nicht sehen, nicht mehr permanent überwachen; „die Macht [wird] automatisiert und individualisiert“ (ebd.). Die Überwachung nimmt bei der Disziplinierung einen zentralen Punkt ein, sodass die Überwachungssituation architektonisch permanent gemacht wird. Der Insasse muss sich immer überwacht fühlen und dementsprechend so handeln, wie es von ihm erwartet wird, weil er nicht wissen kann, wann er tatsächlich überwacht wird. Im gesellschaftlichen Panopticon wird dieses Gedankenkonstrukt auf weitere Institutionen in der Gesellschaft angewandt, zum Beispiel auf Schulen und Kasernen. Dabei spielt die Architektur eine immer kleinere Rolle, viel wichtiger scheint die Logik, die sich nach und nach durchsetzt. Der Wächter wird potenziell immer wieder von einem neuen Wächter überwacht. Der Insasse handelt antizipierend, unter dem Gefühl, möglicherweise gerade jetzt überwacht zu werden. Foucault formuliert diesen Tatbestand folgendermassen:
Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiss, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.
Foucault 2014: S. 260
Das Individuum schreibt die Überwachungsmacht in der Situation der permanenten Sichtbarkeit in sich selbst hinein – Disziplinierung wird zur Selbstdisziplinierung. Disziplinierung ohne die hypothetische Präsenz des Wächters ist im panoptischen Beispiel aber nicht vorstellbar, erst die Ungewissheit, wann man beobachtet wird, also die Trennung von Sehen- und Gesehenwerden, führt zur Internalisierung der Handlungsart. Ohne das Gefühl, von einem Wächter überwacht zu werden, der jederzeit eingreifen könnte, macht die Internalisierung des Machtverhältnisses keinen Sinn. Disziplinierung benötigt Überwachung, Selbstdisziplinierung, wie sie Foucault beschreibt, das Gefühl, von einem Wächter jederzeit gesehen und damit überwacht zu werden.
Wie sieht es umgekehrt aus? Benötigt Überwachung auch Disziplinierung? Es ist zwar intuitiv vorstellbar, dass man etwas ziellos überwacht. Schnell wird aber deutlich, dass man dabei überwachen und beobachten verwechselt. Ich kann zwar neutral beobachten, wie jemand aus dem Gefängnis ausbricht – aber ich kann das nicht überwachen (es sei denn, ich wäre der Gehilfe des Ausbrechers und überwache, dass die Flucht gelingt). Überwachen ist eine zielgerichtete Tätigkeit, die auf Disziplinierung abzielt. Das bestätig Zygmunt Bauman, wenn er sagt: „Jede Form von Überwachung dient demselben Zweck: Ziele auszumachen, zu orten und im Blick zu behalten“ (Bauman/Lyon 2013: S. 116). Als Wächter kann ich nicht tatenlos zusehen, wenn ich etwas beobachte, was dem Ziel meiner Überwachung entgegenläuft.
Das Paar Überwachung und Disziplinierung scheint sich also gegenseitig zu bedingen. Um Disziplinierung zu erreichen, bedarf es der Überwachung, um zu überwachen, bedarf es Ziele – Disziplinierung kommt dann ins Spiel, wenn etwas das Ziel gefährdet. In diesem Prozess werden Wächter benötigt, sei es im panoptischen Gefängnis, in einer Gesellschaft mit Spitzel oder in dem mit Videokameras überwachten öffentlichen Raum. Die Architektur funktioniert nur, weil sie das Gefühl der permanenten Sichtbarkeit hervorruft und Sanktionen erwarten lässt. Genau so funktionieren auch Spitzel, die personifizierten Wächter, die jeden Verstoss protokollieren, und Videokameras; gäbe es keine Instanz, welche die Bilder theoretisch permanent auswerten könnte – gäbe es also keine Wächter – sie würden ihren disziplinierenden Charakter verlieren. Sichtbarkeit ist nur dann ein Problem, wenn sie gegen das sichtbare Individuum verwendet werden kann.
Aber was passiert mit den Wächtern, wenn das einsetzt, was Zygmunt Bauman als „zweite Revolution der Manager“ beschreibt, – die Selbstbefreiung der Manager „von der Last des Managens“ (ebd.: S. 93)? Wenn also die Überwachung der Verwalteten von den Verwalteten selbst übernommen wird? Wird damit Disziplinierung zu Selbstdisziplinierung, wie zum Beispiel Simanowski (2014: S. 30) folgert? Aber, da die Verwalteten im Kollektiv agieren, wie das Zitat suggeriert, fallen die Wächter nicht weg, sondern im Gegenteil: sie vermehren sich. Jeder überwacht nun jeden. Die Überwachung „verflüchtigt“ sich, um mit einem Begriff von Bauman zu argumentieren – ihr zentraler Ort wird ausgehoben, sie kann nicht mehr lokalisiert werden, denn ihre Wächter sind nun überall und nirgends zugleich. Die Wächter haben damit das Antlitz des Bösen verloren, sie sind nicht mehr mit einem Spitzel zu vergleichen – sie agieren motivierend, und nicht fordernd. Damit fällt auch die Hierarchie weg, die sich im Panopticon architektonisch manifestiert. Das Zentrum der Überwachung ist nicht mehr lokalisierbar.
„Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Disziplinargesellschaft, sondern eine Leistungsgesellschaft“ (Han 2010: S. 17), denn ihr Modus, so der Philosoph Byung-Chul Han, habe das Vorzeichen von der Negativität zur Positivität gewechselt, vom Sollen zum Können. Aber: „Das Leistungssubjekt bleibt diszipliniert“ (ebd.: S. 19). Die flüchtig gewordenen Wächter agieren dabei nicht mehr mit Verboten und Geboten, sondern im Schutzschild der Freiheit, sprechen Selbstverantwortung zu und rufen: you can! Die Wächter werden gewissermassen zu motivierenden Personal-Trainern. Auch Han spricht dabei von einer Selbstausbeutung: „Der Ausbeutende ist gleichzeitig der Ausgebeutete. Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar“ (ebd.: S. 22), sagt aber auch, dass dem Paradigmenwechsel von der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft eine Kontinuität innewohne, nämlich im Bestreben, „die Produktion zu maximieren“ (ebd.: S. 18). Das disziplinierte Leistungssubjekt ist ein selbstdiszipliniertes, das „you can“ wird zum „I can“. Warum soll ich also nicht, um wieder zum Self-Tracking zurückzukommen, meine Schritte per Schrittzähler überwachen, wenn ich dafür ein Gerät kaufen und meine Fitness verbessern kann? In der informatisierten Leistungsgesellschaft scheint der sich selbst Überwachende keinen Wächter mehr zu benötigen, er beobachtet sich aus sich selbst heraus, optimiert sich, weil er das will und lässt damit auch den Motivator überflüssig erscheinen. Seit dem Übergang zur Disziplinargesellschaft, wie Foucault ihn beschrieben hat, scheint sich also die Funktion des Wächters kontinuierlich zu verflüchtigen, zuerst hinter einer Architektur, die den Wächter unsichtbar macht. Später, wenn der unsichtbare, omnipräsente Wächter internalisiert ist, kann er ganz weggelassen werden und jeder wird jedem Wächter, bevor die Selbstverantwortung ausgerufen wird, die keinen Verursacher mehr ausser sich selbst zu haben scheint.
Black Box: Wer sind die Akteure hinter der Selbstvermessung?
Die Selbstüberwachung im Sinne der Selbstdisziplinierung gleicht damit einer Black Box, in der immer mehr Handlungsmuster internalisiert wurden und deswegen kaum mehr Akteurskonstellationen zu erkennen sind. Den Begriff der Black Box prägen die beiden Autoren Michel Callon und Bruno Latour (2006) und definieren ihn wie folgt:
Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind. Je mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.
Callon/Latour 2006: S. 83.
Ich möchte im Folgenden etwas genauer auf die Praxis der Selbstüberwachung mittels Self-Tracking schauen, die, so glaube ich, vieles enthält, „was nicht länger beachtet werden muss“. Dabei spreche ich, im Sinne von Callon und Latour, auch technischen Geräten ein Akteurspotenzial zu.
Als Beispiel für einen solchen nicht menschlichen Akteur kann nach Latour eine Strassenschwelle genannt werden, die den Autofahrer dazu veranlasst, langsamer zu fahren (Latour 2010: 134). Die Strassenschwelle kann ebenso ein Akteur sein wie eine Polizistin, die den Autofahrer per Handzeichen dazu bringt, das Tempo zu drosseln oder eine Geschwindigkeitsanzeige, die rot aufblinkt, wenn der Autofahrer zu schnell fährt.
Rauer (2012) spricht bei der Interaktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren den Maschinen und Objekten eine stabilisierende Funktion zu, die aber „stets neue Unschärfen und Kontingenzen [produzieren], die mit weiteren Stabilisatoren eingehegt werden müssen“. Das Resultat der Anhäufung von Stabilisatoren sind interobjektive Situationen, in der Maschinen Maschinen überwachen; zum Beispiel bei der Videoüberwachung, deren Bilder durch Maschinen ausgewertet werden. Rauer beschreibt diesen Zustand so:
Die Algorithmen sollen das System in die Lage versetzen, plötzliche Massenansammlungen auf Plätzen zu erkennen oder eine Tasche in einem Bahnhof als potentiell gefährlich zu definieren – und Alarm auslösen.
Rauer 2012: S. 86
Interobjektive Beobachter führen damit fast automatisch zu Black Boxes, da sie aus Gründen der Benutzerfreundlichkeit durch ein „information hiding“ gekennzeichnet sind; dem Anwender also eine einfache Oberfläche zur Verfügung stellen, hinter der komplexe Prozesse ablaufen. Objekte und Maschinen besitzen demzufolge das Potenzial, als Akteur zu agieren und wirken zwar stabilisierend, produzieren gleichzeitig aber auch neue Unsicherheiten, die wiederum neue Stabilisatoren zur Folge haben. Dieser Prozess führt zu einer stetig steigenden Komplexität, hinter die der Anwender nicht mehr sieht; und führt damit zu Dingen, die nicht länger beachtet werden müssen.
Auch die Selbstüberwachung hat sich entwickelt. Vom selbstdisziplinierten Subjekt im 19. Jahrhundert, das Foucault beschreibt, bis zum Individuum in der Leistungsgesellschaft, wie Han die heutige Gesellschaft nennt, hat sich einiges gewandelt. Stabilisatoren wurden dabei aneinandergereiht, ersetzt und weiterentwickelt. Dieser Prozess verschleiert die Akteurskonstellationen der Selbstüberwachung/Selbstdisziplinierung im 21. Jahrhundert. Deshalb möchte ich hier genauer hinschauen und fragen: Wie funktioniert Selbstüberwachung per Self-Tracking? Um diese Frage zu beantworten, analysiere ich im folgenden Abschnitt einige Werbungen zu Produkten, mit denen sich Self-Tracking betreiben lässt und suche dort nach Akteurskonstellationen.
Self-Tracking: Wer diszipliniert wen wie?
Ein klassisches Self-Tracking Tool scheint Moves zu sein, eine App für iOS und Android. „Moves is an automatic diary of your life. Your daily storyline and maps show where, when, and how much you move.“ (Moves 2015) Moves verwertet, einmal installiert, pausenlos Daten, welche das Smartphone aufzeichnet und bereitet sie grafisch auf. Die App zeigt also etwas, das hinter der Oberfläche des Smartphones verborgen bleibt. Doch Moves leistet mehr als nur das Rekonstruieren des letzten Abends, wie ein User unter dem Kürzel LB in einem Artikel von John Pavlus (2013) über die App kommentiert: „A great app. And also excellent for tracking where the hell you ended up last night after leaving the bar.“ Das Ziel der App ist es, durch das Vermessen des Selbst ein Nachdenken anzuregen, das dazu führen soll, dass der Benutzer sein Leben gesünder gestaltet: „Seeing your everyday exercise helps you think about your life in a new way. Start with small changes that can lead to healthy habits and losing weight naturally.“ (Moves 2015) Doch auf das reine Sehen des Protokolls, das pure Self-Tracking, scheint sich Moves nicht zu verlassen und definiert zumindest ein Ziel: „See how many steps you take and aim for a healthy exercise goal of 10,000 steps a day.“ (Ebd.) Doch das reine Sichtbarmachen der Aktivitäten scheint nicht auszureichen. Moves definiert ein klar verständliches Ziel, das normativ funktioniert: Mehr als 10’000 Schritte pro Tag sind gut, weniger schlecht. Moves agiert damit im Rahmen der Selbstverantwortung des Individuums; es hilft, die Verantwortung für einen gesunden Körper wahrzunehmen – und nimmt in Folge dessen paradoxerweise gleichzeitig Verantwortung weg, in dem es definiert, ab welchem Punkt die Selbstverantwortung für einen gesunden Körper wahrgenommen ist. Moves bietet dadurch nicht nur eindimensionales Protokollieren, sondern auch interaktives Einordnen der täglichen Bewegung.
Als nächstes soll die Werbung für das neue iPhone hinzugezogen werden, die in erster Linie die Funktion der neuen Health-App bewirbt, welche auch als Paradebeispiel für Self-Tracking genannt werden kann. Das deutsche Moderatorenduo Joko und Klaas duelliert sich dabei verbal, der eine mit einem iPhone 6, der andere mit dem grösseren iPhone 6 plus, im Hintergrund die jeweiligen Graphen der App: „Mit der neuen Health-App kannst du eine Menge tracken, wie heute, als ich insgesamt 1,6 Kilometer unterwegs war.“ „Also ich war 8.4 Kilometer joggen.“ „Also ich bin elf Stockwerke hochgelaufen.“ „Also ich hatte eine Birne mit 78 Kalorien.“ „Also ich hatte ein Stück Schwarzwälderkirschtorte mit 645 Kalorien.“ „Du weisst schon, dass das nicht gut ist, oder?“ „Es war aber gut – es war köstlich.“ (Apple 2014) Das Tracken bietet Selbsterkenntnis in Form von Graphen, ohne vordefinierte Ziele wie bei Moves. Der entscheidende Punkt ist hier ein sozial vergleichender; das „also ich“ und das „du weisst schon, dass das nicht gut ist, oder?“. Die Selbstdisziplinierung erfolgt mittels iPhone und Mitmensch. Mit getrackten Daten misst man sich gegenseitig wie in einer Sport-Arena, die nicht mehr auf gleichzeitige Präsenz angewiesen ist. Der Name der App weist dabei unmissverständlich darauf hin: hier geht es, wie bei Moves auch, um die selbstverantwortete Gesundheit. Nur sind es hier die Mitmenschen, die definieren, wann die Selbstverantwortung erreicht ist. Auch hier reicht also die reine Selbstüberwachung nicht aus; sie erscheint ohne Interaktion ziellos.
Ähnlich wie Moves und Health-App bewirbt Jawbone sein Armband UP, „das dich bei jedem Schritt auf deinem Weg in ein aktives und gesundes Leben unterstützt.“ (Jawbone 2015) Das Armband ist ein „fitness tracker“, der „deine Bewegungen, deinen Schlaf und mehr“ erfasst. Neben einem „smart coach“ – einer „exklusive[n] Intelligence Engine, die Rohdaten in deinen persönlichen Fitnessberater verwandelt“ – ist es in erster Linie die Community, die zum Erfolg beitragen soll. Unter dem Motto „Gemeinsam schneller ans Ziel“ schreibt Jaw Bone, dass „Mitglieder der UP-Community, die drei oder mehr Freunde in ihrem Team haben, [..] mindestens 15 Kilometer mehr pro Monat [laufen]! Das verbrennt ganz schön Kalorien.“ (Ebd.) Die Konkurrenzsituation verlagert sich hier in die digitale Welt und Jawbone quantifiziert, was bei der Health-App-Werbung suggeriert wird: Wer sich mit anderen misst, lebt gesünder. Aber mit dem „smart coach“ taucht ein neuer Akteur auf. Anders als Moves, das ein vordefiniertes Ziel vorgibt, bewirbt sich das Armband UP mit einer intelligenten Maschine, die zu einem persönlichen Fitnessberater werden soll. Die Rohdaten, die der Moves Benutzer präsentiert bekommt und die Konkurrenzsituation, in die sich der Health-App-User begibt, scheinen Jawbone nicht auszureichen. Die Beziehung zwischen der Maschine, welche die Daten sammelt und dem Menschen, der die Daten konsumiert, wird dabei um eine Facette reicher: Die App wird zum Personal-Trainer.
Diese Beziehung wird in der Produktbeschreibung für die Apple Watch noch zentraler: „Ob du gehst, läufst, Fahrrad fährst oder beliebte Fitnessgeräte benutzt – die Apple Watch weiss, wie sie dich beim Sport motiviert. Sie hilft dir, Ziele zu setzen, verfolgt deinen Fortschritt, sagt dir, wenn du ein Zwischenziel erreicht hast, und zeigt dir nach dem Training eine vollständige Zusammenfassung.“ (Apple o. J.) Die Apple Watch wird als Personal-Trainer beworben; die Rolle des Mitmenschen erübrigt sich – sie kommt nicht mehr vor. Die Uhr, die „weiss, wie aktiv du bist“ (ebd.) und dir basierend auf diesen Daten ein tägliches Bewegungsziel für die Woche vorschlägt, das realistisch und erreichbar sei, wird von Apple als Akteur mit menschlichem Antlitz eingeführt. Hier scheint sich ein interessanter Übergang der zwischenmenschlichen Interaktion zu einer Mensch-Maschine-Interaktion zu manifestieren.
Festzuhalten gilt, dass Selbstdisziplinierung in allen Fällen interaktiv funktioniert. Am kleinsten ist diese Interaktion bei der App Moves. Die App und der Benutzer reagieren nur auf das vordefinierte Ziel von 10’000 Schritten pro Tag. Der User bewegt sich, bis er das Ziel erreicht hat und die App gratuliert, wenn das Ziel erreicht ist. Die Interaktion wird in den weiteren Beispielen komplexer, kreist sich aber immer um die Frage, wie viel Bewegung „gut“ ist. Je stärker die Interaktion ist, desto stärker kristallisieren sich dabei auch Wächter heraus. Bei der App Moves ist es schwierig, einen Wächter auszumachen – er steht stoisch bei der 10’000 Schritt Marke; verbeugt sich, wenn der User vorüberschreitet, schreitet aber offenbar nicht ein, wenn das Ziel nicht erreicht wird. Danach treten zuerst die Mitmenschen, dann die Smart-Coaches als Wächter ins Zentrum. Der Mitmenschen und/oder das jeweilige technische Gerät überwacht den Benutzer und greift ein, wenn er sich nicht „gut“ verhält, das heisst, sich zum Beispiel zu wenig bewegt oder sich eine ungesunde Schwarzwäldertorte gönnt. Ihr Modus scheint aber in erster Linie motivierend zu sein und verspricht, unter dem Namen des Personal/Smart-Coaches immer individueller zu werden. Damit fügen sich die Self-Tracking-Tools sich nahtlos in das von Han beschriebene Konzept der Leistungsgesellschaft ein.
Eine weitere Facette bekommt die Selbstüberwachung, in dem der sich selbst überwachende auch das überwachende Gerät bzw. die überwachende Anwendung überwacht. Exemplarisch dafür steht ein Kommentar der Nutzerin Karin zu einem Schrittzähler im Onlineshop Weltbild (2014): „Er funktioniert. Doch was ich nicht so gut finde, sobald er an ist, und ich ihn dann zum Beispiel von irgendwo hoch hebe, zählt er auch schon Schritte. Auch wenn ich nur meinen Arm in die Höhe strecke. Also ohne zu laufen. Auch wenn ich mit dem Lift hoch oder runter fahre, fängt er an, Schritte zu zählen. Das finde ich schade, weil so stimmen dann die Angaben der Schritte und der Kalorienverbrauch auch nicht.“
Eine weitere Dimension bekommt das Self-Tracking, wenn man die Daten in Betracht zieht, die dabei gesammelt werden. Interessanterweise sind das oft Daten, die ein Smartphone ohnehin speichert. Diese personalisierten Datensätze werden immer umfangreicher und können wiederum, zumindest potenziell, überwacht werden. Sei es zum Beispiel für Marketingzwecke, die Sicherheit oder das Versicherungswesen. Unter den Stichworten Gegenüberwachung und Big Data müsste man die beiden letzten Punkte genauer untersuchen.
Selbstüberwachung und Glück
Das Öffnen der Black Box hat gezeigt: Die Selbstüberwachung per Self-Tracking ist ein soziales und vielschichtiges Phänomen. Sozial, weil sie stets interaktiv funktioniert; vielschichtig, weil sich darin viele verschiedene Akteure tummeln. Die Akteure in diesem Feld sind sowohl menschlicher als auch technischer Natur. Dabei herrschen Asymmetrien, die mit dieser kurzen Untersuchung nicht genügend aufgedeckt werden konnten und insbesondere unter dem Stichwort Big Data konkreter analysiert werden müssten. Allen Akteuren gemein scheint jedoch der Wunsch nach Optimierung: des Körpers, des Alltags, des sozialen Status, der Maschine, der App oder des Geschäftsmodells.
Der Schriftsteller Markus Werner lässt in seinem zweiten Roman, „Froschnacht“, 1985 erschienen, seinen Protagonisten Franz Thalmann über das Glück sinnieren. Thalmann, geschieden von seiner Frau und vom Pfarramt macht sich als Lebensberater eine Freude aus den Problemen der Menschheit. Seine Definition von Glück erstaunt: „Ich weiss nur eine einzige plausible Definition von Glück: Nicht überwacht sein“, seine Diagnose ist ernüchternd:
Das Glück ist fern. Man will es so. Man pfeift auf Seligkeit. Man schreit nach Werten, das heisst nach Überwachung. […] Nah ist der Kopf und in ihm das Gewissen, das umso dreister wütet, je artiger du bist. Entweder-Oder: Selbstüberwachung oder Glück, entschliesse dich.
Werner 2011 [1985]: S. 31f.
Damit ordnet sich Self-Tracking ganz natürlich ein in eine Gesellschaft, die wertebasiert sein will. Die beiden Gründe für die Selbstvermessung, die Simanowski (2014) formuliert hat – Selbsterkenntnis und Bequemlichkeit – verschieben sich in den Hintergrund und der Wunsch, der Norm zu entsprechen – vernünftig und leistungsfähig zu sein –, rückt in den Vordergrund. Überwachung. Disziplinierung. Kontrolle. Leistung. Ratio. Der vernünftige Mensch überwacht sich. Da unterscheidet sich die Sprache, in der man sich gedanklich ständig selber überwacht, um angemessen zu handeln oder zu kommunizieren nicht wesentlich vom Tagebuch, einem Trainingstagebuch, einem Haushaltsbuch oder eben vom Self-Tracking. Die Black Box Selbstüberwachung bekommt damit eine ungeahnte Tiefe. Sie beginnt nicht erst bei der Protokollierung des eigenen Lebens, sondern schon im Kopf eines jeden Individuums. Die Selbstvermessung mit den untersuchten Hilfsmitteln, die damit nur die Spitze des Eisbergs Selbstüberwachung darstellen, wird dadurch vorallem eines: nämlich normiert – und dadurch vergleichbar. Selbsterkenntnis wird also zur Informationsquantität, wie sie Lyotard (1986) beschrieben hat. In der „Informationsgesellschaft“ (Simanowski 2014) ist das naheliegend, in der „Leistungsgesellschaft“ (Han 2010) ein mitentscheidendes Phänomen: Denn Leistung lässt sich erst im Vergleich ermitteln.
Bild: Camil Tulcan via flickr
Quellen
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Bühlmann, Manuel und Wietlisbach, Olivier (2014): Wo war Herr Glättli die letzten sechs Monate? Minute für Minute, Ort für Ort? Swisscom oder Sunrise wissen es, Sie wissen es jetzt – und der Staat kann es jederzeit wissen. watson. Abgerufen am 11. August 2015 unter: http://www.watson.ch/!533090301.
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Pavlus, John (2013): An Effortless Fitness App That Will Get You Moving. Fast Company. Abgerufen am 11. August 2015 unter: http://www.fastcodesign.com/1672471/an-effortless-fitness-app-that-will-get-you-moving.
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Literatur
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Han, Byung-Chul (2010): Müdigkeitsgesellschaft. 4. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz.
Lange, Antonia (2014): Selbstüberwachung hat kuriose Auswüchse. welt.de. Abgerufen am 11. August 2015 unter: http://www.welt.de/gesundheit/article126514338/Selbstueberwachung-hat-kuriose-Auswuechse.html.
Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lyon, David und Bauman, Zygmunt (2013): Daten, Drohnen, Disziplin: ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin: Suhrkamp.
Lyotard, Jean-François (1986): Das postmoderne Wissen: ein Bericht. Vollst. üb. herausgegeben von Engelmann, Peter. Graz: Böhlau.
Rauer, Valentin (2012): Interobjektivität: Sicherheitskultur aus Sicht der Akteur-Netzwerk-Theorie. S. 69–92. In: Sicherheitskultur: soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, herausgegeben von Daase, Christopher. Frankfurt am Main: Campus.
Simanowski, Roberto (2014): Data Love. Berlin: Matthes & Seitz.
Werle, Klaus (2014): „Blöd, dass der Körper keinen USB-Anschluss hat“. spiegel.de. Abgerufen am 11. August 2015 unter: http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/self-tracking-im-job-die-besten-self-tracking-apps-fuer-manager-a-964940.html.
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