Supervisor und Sharing-Ökonomie


Eine vertiefende Seminararbeit, ETHZ Mai 2016, unveröffentlicht.

„What we have is […] one master program, which I call supervisor,
and this is the program, that is going to run everything.“

Fernando J. Corbato

Anfangs der 1960er Jahre wird am Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) an einem „experimental time-sharing system“ gearbeitet, von dem man sich erhoffte, simultan auf einem Grossrechner rechnen zu können. Dabei von zentraler Bedeutung: der Supervisor (vgl. Corbato et al. 1962). Zur gleichen Zeit wird an der University of Manchester am Atlas Computer getüftelt. Auch hier steht der Supervisor im Zentrum: „All the activities of the system are controlled by a program called supervisor.“ (Kilburn et al. 1962)

In dieser Arbeit möchte ich der These nachgehen, dass Sharingkonzepte immer auf einen Supervisor angewiesen sind. Dabei möchte ich die Formatierung von verschiedenen Sharingkonzepten in der Spätmoderne unter die Lupe nehmen. Die These, die es dabei zu untersuchen gilt ist die, dass Sharing ohne Aufseher- und Kontrollfunktion historisch gesehen nicht zu denken ist; dass der Bedarf der Steuerung in der Formatierung von Sharingkonzepten – was geteilt werden möchte, muss teilbar gemacht werden – immer zu einer Art Supervisor geführt hat.

Eine zentrale Funktion nimmt dabei die Plattform ein, welche die zum Teilen gewillten Menschen zusammenbringt und damit Erwartbarkeit und anschlussfähige Kommunikation gewährleistet. Sebastian Giessmann und Michael Seemann (2015) glauben, dass wir „uns auf dem Weg von der Netzwerkgesellschaft hin zu einer Plattformgesellschaft“ (Kurzthese zu ihrem Vortrag an der re:publica 2015) befinden. Plattformen betrachten sie dabei keineswegs als neues Phänomen, aber als „das dominierende Ordnungsprinzip der Zukunft und der neue Ort konzentrierter Macht.“ (Seemann 2014: 99) Plattformen vermindern Kontingenz, indem sie Menschen unter gewissen Regeln miteinander verbinden und damit Anschlussmöglichkeiten generieren. Der Supervisor ist ihr zentraler Agent, er steuert und kontrolliert und hält damit die Plattform am laufen; er ist ihr Gatekeeper, denn Teilen bedingt immer auch Ausschluss. Der Fokus dieser Arbeit soll auf computerbasiertem Sharing liegen, was aber nicht heisst, dass die These nicht auf „analoges“ Sharing angewendet werden kann. So kann eine Markthalle genauso als Plattform angesehen werden wie die alljährliche Kleiderbörse im Gemeindesaal oder das Klebersystem, mittels welchem man seinen Nachbarn per Kleber am Briefkasten mitteilt, welche Haushaltsgeräte man besitzt und zu teilen bereit ist. Sie alle generieren erwartbare und anschlussfähige Kommunikation – sie verbinden also Menschen unter dem Aspekt von spezifischen Interessen – und funktionieren nach einem gewissen Protokoll. So muss man sich für einen Marktstand bewerben, muss sich an der Kleiderbörse zu einer gewissen Zeit mit seinen nicht mehr gebrauchten (aber frisch gewaschenen und durchaus noch brauchbaren) Kleidern im Gemeindesaal einfinden und die Kleber für den Briefkasten via Online-Formular bestellen.

Im Folgenden sollen drei Sharingkonzepte je für sich historisiert werden, ohne sie aber in den Kontext einer kontinuierlichen, historischen Fortschrittsgeschichte zu stellen. Die drei Konzepte sollen Beispiele bleiben, welche die Heterogenität exemplarisch aufzeigen und die These prüfen sollen, dass Sharingplattformen ohne Supervisor in der Spätmoderne nicht zu denken sind. Genauer betrachtet werden sollen: Time Sharing als das Teilen von Rechenzeit, File Sharing als das Teilen von digitalen Dateien, insbesondere von Musikdateien, und Airbnb als das Teilen von Wohnraum.

Dabei soll aufgezeigt werden, wie heterogen Sharingkonzepte sind und sein können, was für eine Kraft also in dem Begriff des Sharings liegt, was für Wünsche er zu übersetzen vermag und wie wenig Sinn es dadurch macht, diesem Phänomen definierend zu begegnen. Vielmehr soll die Dynamik und der Wandel eines schillernden, aber nur scheinbar stabilen Begriffes im Vordergrund stehen, der eine attraktive Technologie durch effiziente und flexible Ressourcenallokation verspricht.

Der Supervisor als Master

Beim Time Sharing als Teilen von Rechenzeit, das Corbato et al. vom MIT 1962 in einem Projekt-Paper mit dem Titel „An experimental time-sharing system“ beschreiben, wird die knappe Ressource Rechenleistung eines Grossrechners auf verschiedene Benutzer verteilt. Das Problem, das sich die Entwickler durch Time-Sharing zu lösen erhoffen, ist „the slow man-computer interaction presently possible with the bigger, more advanced computers“ (Corbato et al. 1962: 335). Die Rechenkapazität der grösseren und besseren Computer kann durch den Flaschenhals bei der Mensch-Maschine-Schnittstelle – jeder Rechenauftrag muss der Maschine einzeln eingespiesen werden – nicht ausgeschöpft werden. Darum wünschen sich Corbato et al. ein „improvement of man-machine interaction by a process called time-sharing“ (ebd. 334), in dem verschiedene User via einzelne, dezentrale Terminals auf den zentralen Grossrechner zugreifen sollen können.

Wie wichtig der Supervisor für das Aufteilen der Rechenzeit ist, belegt folgendes Zitat: „An important aspect of any future time-shared computer is that until the system programming is completed, especially the critical time-sharing supervisor, the computer is completely worthless.“ (Ebd.: 343) Als grosse Herausforderung kristallisiert sich dabei dessen Programmierung heraus, damit die Rechenleistung an verschiedene Anwender verteilt werden kann. Er arbeitet mit round-robins und interrupts, also Ringverteilung und Unterbrüchen, wobei der Benutzer stets das Gefühl haben soll, auf die gesamte Rechenkapazität zugreifen zu können. Der Rechner kann aber immer nur an einem Auftrag arbeiten, der dann in Sequenzen aufgeteilt bearbeitet wird. Der Supervisor ist dabei eine Instanz im Rechner, der eine Prozedur zugunsten einer anderen unterbrechen kann, der damit Prozeduren sequenziell behandelt und Input-Output ständig überwachen muss. Ein Problem, das sich den Entwicklern dabei stellt, ist die Verteilgerechtigkeit. So sollen kleine Probleme prioritär und grosse Probleme sekundär behandelt werden (vgl. Morash 1963: ab 15:00).

Indem sich Time-Sharing weg von der zentralen Stelle, welche zur Schlange am Rechner verweist, hin zum individualisierten, radikal vereinzelten Computernutzer bewegt, wird es auch zur Plattform, auf der sich gleichzeitig mehrere Benutzer an ihren jeweiligen Terminals aufhalten können und die ihnen erwartbare, konstante Rechenleistung verspricht. Analog zum Telefon muss sich der User quasi nur noch mit der Zentrale in Verbindung setzen, im einen Fall via Telefonhörer, im anderen via Terminal.

Gesteuert wird die Aufteilung der Rechenzeit durch ein hohes Grad an Abstraktion, das selbst Corbato vor Erklärungsnot stellt: In 27 Minuten versucht er, dem M.I.T.-Reporter John Firch Time-Sharing zu erklären, macht Analogien, die er gleich wieder relativiert –zum Beispiel: „I used the term alarm clock, but it isn’t like the conventional one“ (Morash 1963: 13:30) – und verbraucht eine Menge Kreide an der Tafel (vgl. Morash 1963). Im Hinblick auf die Automatisierung der Verwaltung bemerkte Niklas Luhmann dazu passend: „Man kann das tägliche Handeln durch Systemkomplizierung entlasten.“ (Luhmann 1966: 9) Interessant sind die Beschreibungsversuche, insbesondere des Supervisors. Corbato beschreibt ihn erst als Jongleur, der ein „juggling game“ spielt: „to keeping all of the right programs in the right time“ (Morash 1963: 12:51). Später vergleicht er den Supervisor mit einem Chessmaster:

[T]he supervisor program could be compared to a chessmaster in a tournament. And the chessmaster is playing a large number of people all at once. Now the chessmasters usually are very fast and clever and he can certainly analyze the situation rapidly and make his moves and his opponents are normally require considerable time to think it over. And this is the way it is here.

Ebd.: 14:15

Fassen wir zusammen: Time-Sharing stellt eine Plattform dar, die es ermöglicht, die knappe Ressource Rechenzeit auf unterschiedliche, gleichzeitig mit dem Rechner verbundene Benutzer aufzuteilen. Der Supervisor ist dabei ein Programm im zentralen Rechner, der die dezentral eingehenden Rechnungsaufgaben durch Abstraktion nach allgemein gültigen Regeln übergibt. Der Supervisor vermittelt also durch Überwachung von Input-Output zwischen Mensch und Maschine und kontrolliert alle Aktivitäten, wodurch er eine Prozedur zugunsten einer anderen Unterbrechen kann, sodass alle Nutzer Zugriff auf erwartbare Rechenleistung haben. Der Supervisor ist eine Master-Instanz.

Der Supervisor als Vermittler

Eine andere Art Problem adressieren Music Sharing Programme am Ende des letzten bzw. am Anfang des jetzigen Jahrtausends: Sie versprechen Musikfans, ihre Lieblingsmusik mit einer „unprecedented ease“ (Sherman 2000: 16) zu teilen. Programme wie Napster, „a simple tool designed to make finding and sharing digital music easy“ (ebd.: 18), verbinden tauschfreudige Musikliebhaber.

Das Napster-Programm besticht durch seine Schlichtheit: Nach dem kostenlosen Herunterladen des Programms aus dem Internet und der Installation auf dem Computer gibt man das Verzeichnis frei, in dem die Musikdateien liegen, die man zu teilen bereit ist. Das Programm schickt eine Liste dieser Dateien an eine zentrale Datenbank, welche die dezentral liegenden Inhalte für die Nutzer durchsuchbar machen. Findet ein Nutzer eine Datei, so verbindet sich das Programm mit dem Rechner der Person, welche die Musikdatei zum Teilen bereitgestellt hat, und startet die Übertragung der Datei. Diese Art der Datenübertragung wird Peer-to-Peer-Filesharing genannt (vgl. Seemann 2014: 86).

Peer bedeutet Gleichgestellter und weist damit darauf hin, dass es zwischen den Nutzern keine hierarchischen Beziehungen gibt: „Alle tauschen unmittelbar mit allen, alle arbeiten auf der selben Grundlage und mit denselben technischen Mitteln.“ (Ebd.) Ein Programm wie Napster ist eine Plattform, die gleichgestellte, dezentrale Nutzer vermittelt, indem es eine zentrale Datenbank durchsuchbar macht. Diese Plattform ermöglicht es via Datenbankabfrage Personen, die einander komplett unbekannt sind, unter einem spezifischen Interesse zusammen zu bringen und via Netzwerkprotokoll Dateien untereinander auszutauschen.

Der Supervisor ist damit ein beinahe unsichtbarer Vermittler, der es seinen Kunden dank der Unterhaltung einer Datenbank und der Festsetzung eines Netzwerkprotokolls ermöglicht, miteinander in Verbindung zu treten und Dateien zu teilen (wobei Teilen hier vielleicht gar nicht mehr der richtige Begriff ist, denn die Datei wird potenziell unendlich vervielfältigt und damit eher kopiert als geteilt). Damit stellt er den Nutzern ein spezifisches Netzwerk zur Verfügung, das Kontingenz vermindert, Anschlussfähigkeit verspricht und scheinbar keine Hierarchie mehr kennt. Dass der Nutzer dabei auf eine zentrale Datenbank zugreift, die der Supervisor verwaltet, bekommt er kaum mehr zu spüren, obwohl jeder Kontakt in diesem Netz über das Zentrum verläuft, das damit die totale Kontrolle über alle Verbindungen hat – was dann auch zum Problem von Napster wurde: „Sobald ein Nutzer Napster startete, setzte sich das Programm mit einem dieser Server [der Serverfarm der Firma] in Verbindung“ (Röttgers 2003: 23), was nicht nur die zentrale Datenbank, sondern auch das Überwachen aller Aktivitäten derjenigen, die das System nutzten, ermöglichte. „Doch Napsters Server waren auch der wunde Punkt“, denn für Kritiker der Tauschbörse bot das Zentrum eine einfach zu lokalisierende Angriffsfläche: „Ohne die Server gab es kein Napster“ (ebd.). Kritiker gab es im Musikbusiness, das sein Geschäftsmodell gefährdet sah, mehr als genug, was zu Klagen und schliesslich zum Ende des Modells Napster geführt hat. Gleichzeitig hat der Fall Napster aber andere „nihilistic media terrorists“ (wie sich die Gnutella Entwickler auf ihrer Homepage selbst beschrieben, vgl. Sherman 2000: 16) dazu animiert, Programme wie Gnutella zu entwickeln, die komplett auf das Zentrum verzichten.

Ähnlich wie beim Time Sharing ist auch hier eine Erhöhung der Interaktion durch Abstraktion zu beobachten – vor allem in Bezug auf das Übermitteln der Dateien, das nach einem normierten, standardisierten Netzwerkprotokoll funktioniert, welches die zu übermittelnden Dateien komprimiert und in Teile teilt. Wieder mit Luhmann gesprochen ist es die „Systemkomplizierung“, welche dem Nutzer das alltägliche Handeln erleichtert, hier in Bezug auf seine Musiksammlung. Die Systemkomplizierung wird dabei nicht nur von der Erhöhung der Interaktion in einem spezifischen Netzwerk vorangetrieben. Wie das Beispiel Gnutella zeigt, waren es in erster Linie juristische Probleme, die das P2P-Filesharing vom semizentralen Napster hin zum komplett dezentralen Filesharing wie zum Beispiel bei Gnutella getrieben haben – dabei ist anzumerken, dass die dezentrale Suche, zumindest zu Beginn, wesentlich weniger effektiv war als die zentrale, weil die Suche dabei von Peer zu Peer weitergereicht werden musste, bis sie erfolgreich war (vgl. Röttgers 2003: 24). Der Supervisor verschwindet bei Gnutella fast vollends, in dem er die Kontrolle über die Nutzung komplett abgibt und nur noch die Systemarchitektur kontrolliert. Hier dürfte wohl einer der Ursprünge der Wunschmaschine Sharing Ökonomie liegen, die keiner zentralen Kontrolle mehr obliegt und dadurch nahelegt, dass sie ohne Vermittler funktioniert.

Fassen wir zusammen: Im Filesharing ist der Supervisor als Vermittler zwischen sich unbekannten Tauschwilligen zu verorten, der ein spezifisches Netzwerk zur Verfügung stellt, welches nicht an geografische Grenzen gebunden ist, sich dagegen funktional und thematisch abgrenzt und damit, im Beispiel von Napster, dem Nutzer ein spezifisches, kaum hierarchisches Netzwerk mittels Plattform zur Verfügung stellt. Der Vermittler arbeitet am effektivsten von der Zentrale aus – mittels Datenbank –, ist da aber gleichzeitig auch am verwundbarsten, da der Ausfall der Zentrale den Totalausfall des Systems bedeutet. Charakteristisch scheint, dass die Datenbankabfragen vom Supervisor nicht miteinander verknüpft und damit alle Peers gleich behandelt werden: Peer sucht Musikstück, Vermittler durchsucht Datenbank und vermittelt den Peer mit dem Peer, der das Stück zur Verfügung stellt.

Der Supervisor als Broker

Indem Airbnb Datenbankabfragen miteinander verknüpft, gewinnt die Funktion des Vermittlers, die in den Filesharing-Programmen anfangs des Jahrtausends fast obsolet wurde, wieder an Bedeutung. Airbnb wurde im Jahr 2008 gegründet und definiert sich als „bewährter gemeinschaftlicher Marktplatz, auf dem Menschen einzigartige Unterkünfte auf der ganzen Welt inserieren, entdecken und buchen können – online oder vom Mobiltelefon oder Tablet aus.“ (Airbnb.ch/about) Airbnb verwandelt damit die ganze Stadt zu einem „potenziellen Hotel, zugänglich über eine Plattform“ (Seemann 2014: 116). Der Zugang zur Plattform ist denkbar einfach, ein Programm braucht es dazu nicht mehr – nur noch ein Profil, um sich auf der Website oder in der App einzuloggen. Auch hier vermittelt die Plattform Peers und unterscheidet sich damit kaum vom Filesharing. Im Gegensatz zum Filesharing funktioniert der „gemeinschaftliche Marktplatz“ aber nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wohnungen oder Zimmer werden zu einem gewissen Preis inseriert, der Vermittler berechnet dabei Servicegebühren in der Höhe von sechs bis zwölf Prozent (vgl. Airbnb.ch). Dieser Umstand alleine reicht aus, damit die Zentrale wieder massiv an Bedeutung gewinnt. Airbnb muss alles dafür tun, damit sich die Peers via der Firmeneigenen Plattform organisieren und gleichzeitig alle Aktivitäten der Teilnehmer überwachen – sonst entgeht dem Anbieter die Servicegebühr. Plattformen generieren anschlussfähige Kommunikation, indem sie Menschen mit einem spezifischen Interesse miteinander verbinden. Plattformen wie Airbnb vermindern die Kontingenz zusätzlich, indem sie Suchanfragen personalisieren: „Teile deine einzigartige Gastfreundschaft mit Gästen, die wir für dich ausgesucht haben“ (Airbnb 2016) und „[p]lane dein nächstes Abenteuer mit einem innovativen Matching-System, das deine Vorlieben kennt und die passenden Unterkünfte, Nachbarschaften und Erlebnisse vor Ort findet.“ (Airbnb.de/livethere) Möglich macht das die Query (dt. Abfrage) moderner Datenbanksysteme, welche Komplexität in Echtzeit prozessierbar macht, sodass wir gar nichts mehr von ihr mitbekommen (vgl. Seemann 2014: 91) – zum Beispiel, wenn wir uns auf Airbnb in Echtzeit durch mehr als zwei Millionen Inserate bewegen, welche uns die Query schön nach Reiseziel und persönlichen Vorlieben ordnet (man stelle sich diese zwei Millionen Inserate auf der Inseratepinnwand im lokalen Supermarkt oder als Kleininserate in der Zeitung vor).

Beim Filesharing musste der Peer entweder ganz spezifisch ein Musikstück suchen, von dem er wissen musste, dass es dieses Stück auch gab. Oder er nutzte die Möglichkeit, in den Ordnern von Usern, die womöglich einen ähnlichen Musikgeschmack hatten, nach neuer Musik zu stöbern. Dass aber der Vermittler in diesen Prozess eingriff, war nicht denkbar: Er behandelte alle Peers genau gleich. Die Query ermöglicht es nun – so auch auf neueren Musikplattformen wie Spotify – den Vorlieben des Peers spezifisch gerecht zu werden und ihn nicht mehr wie jeden anderen Peer zu behandeln, sondern ihm persönlich aufgrund seiner Vorlieben neue Musik vorzuschlagen. Die Query funktioniert damit als Kontingenzvernichtungsmaschine. Jetzt könnte man denken, dass dadurch das Abenteuer verloren geht, das noch zu erleben war, als man frisch per Filesharing übermittelte Musikdateien öffnete und sich nicht ganz sicher sein konnte, ob die Datei überhaupt richtig angeschrieben und also die Musik beinhaltete, die man sich wünschte  – und ob das Lied, das man im Ordner eines Users gefunden hat, den man im Musikgeschmack ähnlich einschätzte, nicht doch aus einem für unmöglich gehaltenen Genre stammt. Airbnb findet: ganz im Gegenteil, denn jetzt ist das Abenteuer erst planbar! Die komplexe Query, die für den Peer unsichtbar im Hintergrund Informationen in Echtzeit verknüpft, vermittelt dem Peer ein ganz persönliches, nach seinen Präferenzen zusammengestelltes „Abenteuer“. Ein „Abenteuer“, das kaum mehr Risiko, dafür umso mehr Erlebnis in einem sicher abgesteckten Feld verspricht – ein Abenteuer in der Komfortzone: „Sei dort zuhause“, wie ein Slogan auf der Airbnb-Website lautet. Airbnb wirkt dabei wie die bequemere Form der Mobilehomes, dank denen es sich auf der ganzen Welt „wie zuhause“ wohnen lässt.

Der Supervisor ist dabei im wahrsten Sinne des Wortes zentral: Er verwaltet die Vorlieben der Peers, steuert und kontrolliert damit deren Aufeinandertreffen und funktioniert als Aufseher, indem er eingreift, bevor sich zwei Peers miteinander verbinden, die nicht kompatibel sind (zum Beispiel, wenn ein Veganer auf einen Fleischtiger treffen könnte oder die Katzenhaarallergikerin auf eine Katze oder die Liebhaberin klassischer Musik auf einen Freejazzfreak oder die aktive Outdoorsportlerin auf eine Couchpotato.) Er treibt weiter die fällige Servicegebühr ein und kontrolliert aus diesem Grund alle Zahlungsmodalitäten und kann damit wiederum seinen Peers mitteilen, wie viel Geld ein Gastgeber in seiner Stadt durchschnittlich in der Woche mit Airbnb verdient. Der Supervisor stellt dabei sicher, dass man nur noch das findet, was man zu finden weiss oder sich zu finden vorstellen kann – und verunmöglicht damit das, was man seit Horace Walpole als serendipity (oder Serendipität) bezeichnet: die zufällige Entdeckung von etwas ursprünglich nicht gesuchtem: den glücklichen Zufall.

Fassen wir zusammen: Bei Airbnb funktioniert der Supervisor als persönlicher Broker, der mittels Matching-System untereinander kompatible Peers in der kurzfristigen Vermietung von persönlichem Wohnraum zusammenbringt und für diese Dienstleistung Geld kassiert. Das Netzwerk, das die Plattform Airbnb seinen Nutzern zur Verfügung stellt, wird damit, im Vergleich zum Filesharing, noch spezifischer, weil es auf die persönlichen Vorlieben der Peers abgestimmt wird. Der Supervisor arbeitet dabei als Broker mittels Query von der Zentrale aus, indem er riesige Datenbanken in Echtzeit abfragt und diese Abfragen miteinander verknüpft. Er steuert und kontrolliert damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwei Peers finden – das Netzwerk ist nicht mehr für jeden gleich, es wird personifiziert.

Ohne Supervisor keine Übersicht

Der spezifische Blick auf den Supervisor hat den Fokus auf die Vermittlungsebene von Sharingkonzepten gelenkt. In den drei Beispielen kristallisierten sich dabei drei verschiedene Agenten heraus: die zuweisende Master-Instanz, der uneigennützige Vermittler und der Broker als gewinnorientierter Zwischenhändler. Im Wandel von Filesharing-Programmen zu Plattformen à la Airbnb lässt sich der Paradigmenwechsel von der Netzwerk- zur Plattformgesellschaft nachvollziehen, den Giessmann und Seemann (2015) konstatieren. Plattformen werden zu Orten konzentrierter Macht, indem sie Netzwerk und Datenbank miteinander verschränken: Je grösser das Netzwerk und die Datenbank, umso grösser die Konfigurationsmöglichkeiten, welche für den Menschen nur noch mit dem Supervisor als Broker, der filtert und den Best-Match zu liefern verspricht, zu handhaben sind. Diese Plattformen versprechen Übersicht. Da sie Netzwerke zur Verfügung stellen, stehen und fallen sie mit dem Netzwerkeffekt. Denn eine Plattform ohne Teilnehmer ist nutzlos – der Nutzen steigt mit der Anzahl der Teilnehmer, die sich auf der Plattform bewegen (vgl. Seemann 2014: 106). Dieser Netzwerkeffekt verstärkt sich mit der Query, deren Nutzen mit der Anzahl Teilnehmer und deren gesammelten Informationen in der Datenbank steigt. Je mehr Nutzer, je mehr Daten, umso mehr Verknüpfungsmöglichkeiten, desto spezifischere, personifiziertere Resultate. Verlor das Zentrum im Gedanke der Netzwerkgesellschaft an Bedeutung, so gewinnt es dank der schieren Masse an Informationen und der Möglichkeit der Verknüpfung dieser Information in Echtzeit wieder an Wichtigkeit, indem es vorstrukturiert, Kontingenz reduziert und Bequemlichkeit verspricht. Dieser Broker stellt Übersicht her, strukturiert dabei die digitale Welt des Teilnehmers einer Plattform entscheidend vor und birgt damit die potenzielle Gefahr, die Filter-Bubble (oder den Echo-Raum) zu verantworten, in der sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen nur unter gleichdenkenden Menschen wiederfinden und das „Andere“ der Kontingenzvernichtungsmaschine zum Opfer fällt.

Luhmanns These der Systemkomplizierung, welche das tägliche Handeln erleichtert, scheint sich durch die drei Beispiele durchzuziehen. Wie genau das System funktioniert, interessiert kaum einen Teilnehmer, solange es anschlussfähige Kommunikation bietet. Ist die Systemarchitektur beim Time Sharing, das eine überschaubare Zahl an Usern mit einem Rechner verbinden soll, schon schwer zu erklären, so komplizieren sich die (unsichtbaren) Systemeabläufe weiter mit steigender Zahl an Teilnehmern, die ihrerseits in immer mehr adressierbare Fragmente geteilt werden. Bei Plattformen wie Airbnb bieten sich derart viele Konfigurationsmöglichkeiten, dass eine Vorselektion – personifiziert nach den Vorlieben der Teilnehmer – unabdingbar scheint. Der Supervisor und mit ihm Überwachung, Kontrolle und Steuerung sind dafür zentral.

Literatur

Airbnb (2016): Teile deine einzigartige Gastfreundschaft mit Gästen, die wir für dich ausgesucht haben. Abgerufen am 26. Mai 2016 unter: http://blog.airbnb.com/sharing-your-unique-hospitality-with-well-matched-guests-de/.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Corbato, Fernando J, Merwin-Daggett, Marjorie, und Daley, Robert C (1962): An experimental time-sharing system. AIEE-IRE ’62 (Spring) Proceedings of the May 1-3, spring joint computer conference 335–44.

Giessmann, Sebastian und Seemann, Michael (2015): Was ist eine Plattform? – Ein Neuanfang. Abgerufen am 26. Mai 2016 unter: http://www.ctrl-verlust.net/was-ist-eine-plattform-ein-neuanfang/.

Kilburn, Tom, Payne, Bruce R, und Howarth, David J (1962): The Atlas Supervisor. Abgerufen am 26. Mai 2016 unter: http://www.chilton-computing.org.uk/acl/technology/atlas/p019.htm.

Luhmann, Niklas (1966): Theorie der Verwaltungswissenschaft. Köln: Grotetsche Verlagsbuchhandlung KG.

Morash, Russel (1963): Timesharing: A solution to computer bottlenecks. M.I.T. Science Reporter. Abgerufen am 26. Mai 2016 unter: https://www.youtube.com/watch?v=Q07PhW5sCEk.

Röttgers, Janko (2003): Mix, Burn & R.I.P. – Das Ende der Musikindustrie. Netzausgabe. Hannover: Heise Zeitschriften Verlag. Abgerufen am 26. Mai 2016 unter: ftp://ftp.heise.de/pub/tp/buch_10.pdf.

Seemann, Michael (2014): Das neue Spiel: Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust. Dt. Erstau. Freiburg im Breisgau: orange-press.

Sherman, Chris (2000): Napster. Copyright killer or distribution hero? Online 24(6):16–28.

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