Erschienen in 041–Das Kulturmagazin, Oktober 2018 (Bild: Ingo Höhn).
Herbstzeit heisst immer auch Theaterzeit. Ein Blick auf vier Kulissen in Luzern, Arth, Stans und Brunnen zeigt, dass es auch in dieser Spielzeit einiges zu entdecken gibt.
Für Friedrich Schiller waren sie die „Bretter, die die Welt bedeuten“. Heute können sie alles sein und alles bedeuten. Die Rede ist von den Bühnen, den Räumen, in denen Schauspiele inszeniert werden. Im postmodernen „alles kann alles sein“ kann die Bühne mehr als nur die Welt bedeuten. Sie kann selbst die Welt sein – und gleichzeitig eine andere bedeuten. Das Theater gestaltet die dafür vorgesehenen Räume also nicht mehr nur, es sucht und findet ihre Bühnen auch ausserhalb der eigens für sie gebauten Häuser. Wo und wie setzen die Innerschweizer Theater in der Spielzeit 2018/19 ihre Bühnenräume? Wie machen sie das und was wollen sie dabei erreichen? Wir haben bei vier Produktionen einen Blick in die Raumlabore gewagt und dabei Bühnenbildner, Regisseurinnen, Autoren, Dramaturginnen und Produktionsleiterinnen gefunden, die Räume suchen, rendern, modellieren, domestizieren, mit ihnen interagieren, sie befragen und ihre Ideen auf sie abstimmen.
Das Luzerner Theater, das sich unter Benedikt von Peter dem Raumtheater verschrieben hat, lud sein Publikum bereits zum Spielzeitauftakt dazu ein, die Sparte Schauspiel beim Betreten von neuen Ufern zu begleiten. „Traumland“ von Kornél Mundruczó und Kata Wéber hiess die Produktion, welche Sandra Küpper, künstlerische Leiterin Schauspiel, als Dramaturgin begleitete und als eine „theatrale Schiffstour“ beschreibt. Die 100 Zuschauer pro Aufführung wurden dabei auf die knapp 50 Meter lange MS Saphir gebeten. Stets ungewiss blieb dabei, wo die Bühne anfängt und wo sie aufhört. Denn neben dem Schiff wurde auch die Landschaft bespielt. Jede Lage des Schiffs war eine bewusste Setzung. Natürlich sei das im Vergleich zu einer Produktion auf einer klassischen Bühne ein viel grösserer Aufwand, sagt Küpper. Denn „da ist erst mal gar nichts eingerichtet. Weder auf dem Schiff, noch in der Landschaft. Alles ist erstmal komplett nicht Theater.“ Um die vorbeiziehende Landschaft zu bespielen, musste sie zuerst eingegrenzt werden. Dafür hat sich das Produktionsteam das Ufer in Ruhe vom Schiff aus angeschaut und dabei beobachtet, wann man den Blick eher auf die Landschaft schwenkt und wo der Fokus auf dem Schiff bleibt. Dabei stellten sich ganz viele Fragen, wie die Dramaturgin erklärt: „Wie führt man die Geschichte? Wann führt man sie nach draussen, wann behält man sie drinnen? Wie schafft man es, gleichzeitig Schiff und Grundstücke oder Uferabschnitte mit Schauspielern zu bespielen? Wie baut man dort eine Art Bühne, ein Set, wie baut man dort Kunst auf?“ Für Küpper ist klar, dass das Setzen von neuen Räumen auch neue Erzählformen bedingt. Einen Hamlet auf der MS Saphir kann sie sich nicht vorstellen. Viel eher möchte sich das Luzerner Theater am Genre des Autorenfilms orientieren. Küpper denkt dabei „an Regisseure, die mit Autoren zusammenarbeiten oder selber Autoren sind und die für hier eine neue Geschichte erzählen.“ Künstler sollen sich vertieft mit Luzern auseinandersetzen und dabei Geschichten finden, so wie es auch bei Traumland geschehen ist. Kornél Mundruczó und Kata Wéber haben sich dafür intensiv mit Luzern beschäftigt, Einheimische nach Luzerner Geschichten und Mythen gefragt und daraus einen fiktiven Stoff entwickelt. Das Spielen solcher Geschichten in durchlässigen Räumen soll wiederum auf die Luzerner Wirklichkeit einwirken und den Einheimischen neue Perspektiven auf das scheinbar Bekannte ermöglichen. Dafür war „Traumland“ der programmatische Beginn der Theatersaison. Neue Räume und Erzählformen wird es auch in den Produktionen „Biedermann und die Brandstifter“, die in Luzerner Wohnungen spielt, der „Open Kitchen“ als grosser, öffentlicher Küche und in „Schuld und Sühne“, gleichzeitig auf zwei Bühnen, zu entdecken geben.
Die schmale Gratwanderung ist der Reiz. Dass man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Fiktion und Realität. Aus der Fiktion, die konkret ist, weil wir in der Landschaft unterwegs sind, entsteht eine neue Realität.
Sandra Küpper
Klassischer geht es im Theater Arth zu und her, wo im Januar mit „Orpheus in der Unterwelt“ eine Operette auf dem Programm steht. Konrad Reichmuth, der langjährige Bühnenbildner des Hauses, verweist aber darauf, dass Orpheus eine spezielle Operette sei und mit ihrem direkten Bezug zur griechischen Mythologie aus der Reihe tanze: „So etwas hat es in Arth noch nie gegeben!“ Die Tatsache, dass die Operette in einer Phantasiewelt von Göttern, Halbgöttern und anderen sonderbaren Gestalten spielt, eröffnet Reichmuth Möglichkeiten, die er sonst nicht habe: „Es gibt hier keine Vorlagen in der Realität – abgesehen natürlich aus der Kunstgeschichte – aber es ist Mythologie, da sind die Grenzen nicht fest gesetzt. Man kann seinen eigenen Vorstellungen folgen.“ Sobald die alte Produktion beendet ist, beginnt Reichmuth jeweils mit dem Sondieren für die nächste. Er sitzt dazu mit der Regisseurin zusammen und widmet sich der Textlektüre und den Bildern, die ihm dabei im Geist erscheinen. Dann wird skizziert, diskutiert, weiter skizziert. Die groben Zeichnungen der Bühnenbilder dienen Reichmuth dann als Vorlage für ein detailreiches 3D-Modell. Am Computer rekonstruiert er dabei den Bühnenraum des Theaters in Arth und könne bereits mit Lichtstimmungen arbeiten, verschiedene Objekte austesten und Probleme lösen, bevor sie überhaupt Realität werden. Zwischen gerenderter und tatsächlicher Wirklichkeit können aber Löcher aufklaffen. Der Realitätscheck kommt denn auch erst in der Zusammenarbeit mit dem Bühnenbauer und seinem Team. Nicht alles, was sich visualisieren lässt, kann man in die Wirklichkeit umsetzen. So hält sich Reichmuth noch zugeknöpft, wenn man ihn über das Bühnenbild zu Orpheus befragt. In der Visualisierung, so viel könne er unter anderem verraten, seien fahrbare Wolken geplant. Wie sie in die Wirklichkeit übersetzt werden und was sie beim Publikum auslösen, das lässt sich erst ab Januar erfahren.
Mit virtuellen Modellen kann man schon früh sehr viel ausprobieren. Man kann die Objekte in die Bühne hineinstellen, verschieben, raufziehen. Vielfach kann man damit Probleme schon lösen, bevor sie entstehen.
Konrad Reichmuth
David Leuthold, der für das Bühnenbild der Produktion „Little Shop of Horror“ (Premiere im Januar) der Theatergesellschaft Stans zuständig ist, arbeitet im Gegensatz zu Reichmuth nicht mit Visualisierungen, sondern mit einem Bühnenmodell im Format 1:20. Auch er beginnt mit Skizzen und Diskussionen. Später stellt er im Modell seine in kleine Objekte transformierten Ideen in den künstlich verkleinerten Raum; um die Wirkung zu testen, Vorschläge zu präsentieren und daraus Pläne zu erstellen. Das Musical „Little Shop of Horror“ sei zwar märchenhaft, aber für seine Arbeit sieht er trotzdem schon vieles als vorgegeben: „Es braucht zum Beispiel den Blumenladen, einen Raum für die Pflanze, einen Zahnarzt, Strassen.“ Und trotz dieser Setzungen, welche der Text verlange, geniesse er viele Freiheiten, weil die Geschichte keinen Anspruch auf Realität habe. Er verspricht „ein Bühnenbild ohne Hochglanz, in dem die Welt ein bisschen zu Grunde geht, in dessen Zentrum die Pflanze stehen wird und in dem ein schönes, passendes Licht eingesetzt wird.“ In der Umsetzung arbeitet der Bühnenbildner zusammen mit einer Crew aus Freiwilligen. Sie seien es, die Leuthold immer wieder aufzeigen, was trotz kleinem Budget möglich ist und ihn damit regelmässig „ins Staunen versetzen“, wie er es formuliert. Der gelernte Spengler, der in seinem Leben schon auf den Bühnen des Luzerner Theaters, des Schauspielhauses Zürich und des Bolschoi Theaters in Moskau gewirkt hat, spricht aufgrund des Engagements und des Willens lieber vom Liebhaber- statt vom Laientheater. Dass Leuthold dabei das Bühnenbild als zurückhaltenden, aber klar definierten Rahmen konzipiert, in dem die Laienschauspieler im Vordergrund stehen, ist dabei nur konsequent.
Das Bühnenbild soll das Spiel nicht konkurrenzieren. Es soll zurückhaltend und einfach sein. Was sich im Rahmen abspielt, das Bühnenbild ist nichts anderes als ein Rahmen, das ist das Wichtige.
David Leuthold
Während in Arth und in Stans der passende Raum zum Text erfunden und umgesetzt wird, hat das Laientheater „theater brunnen„, ähnlich wie das Luzerner Theater, für „nachtfahrt in der morgenröte“ (Premiere im November) die Textproduktion mit der Frage des Raumes verbunden. Für Housi Denz und Sophie Stierle, Autor und Regisseurin, ist es bereits ihre vierte gemeinsame Produktion in Brunnen. Die vierte Produktion in Folge auch, die nicht in der Aula in Brunnen aufgeführt wird. „Alles ist besser als die Aula Brunnen“, meint Stierle dazu. Weil Autor Denz für seine Geschichte einen geschlossenen Raum im Kopf hatte und die Regisseurin den Wunsch nach einem Ort in Bewegung verspürte, seien sie schliesslich auf der MS Aurora gelandet, einem schmalen, 18 Meter langen Fahrgastschiff. Ein Raum, ganz ohne Rückzugsmöglichkeiten, nicht einmal für den Kapitän. „Damit hatte ich genau die Situation, die ich brauchte“, sagt Denz, der seine fiktive Geschichte nach der Setzung des Raums fertig geschrieben hat. Sie handelt von einem Betriebsausflug und dem Tod, der seine Umsatzvorgabe erfüllen muss, obwohl seine Zielperson nicht an Bord ist. Stierle steht als Regisseurin vor der bewusst gewählten Tatsache, dass sie diese Geschichte an einem Ort inszenieren muss, an dem sie nichts mehr verändern kann: „Ein Schiff ist und bleibt ein Schiff, mit all seinen Gegebenheiten.“ Dieser Raum stelle ihr eine ganze Reihe an Fragen, wie Stierle dazu bemerkt: „Wie ist die Atmosphäre in einem geschlossenen, fahrenden Bühnenraum? Wie geht man mit der permanenten Anwesenheit aller Beteiligten um? Spielt die Landschaft ausserhalb des Bootes mit? Und wie stellt man sich der Situation, dass 30 Zuschauer mit den Akteuren buchstäblich im selben Boot sitzen werden?“ Antworten auf die Fragen will Stierle während den Proben auf dem Schiff finden. Sticht das Schiff dann Ende November für die Aufführungen in den See, wird es kaum zu unterscheiden sein von anderen Schiffen, auf denen vielleicht tatsächlich ein Betriebsausflug stattfindet. Im Vergleich zu den Teilnehmern des Betriebsausflugs sind die Passagiere der MS Aurora aber einen Pakt mit der Kunst eingegangen. Den leichten kognitiven Schwindel, den sie davon tragen könnten, wäre weder dem Schaukeln des Schiffes noch dem Alkohol geschuldet, sondern allein dem magischen Erlebnis auf dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Fiktion.
Ich finde es spannender im öffentlichen Raum zu inszenieren als auf einer Bühne. Mir gefällt die Vermischung der Realität eines Raumes mit der Fiktion eines Textes.
Sophie Stierle
Der Blick in die vier Raumlabore zeigt: In der postmodernen Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Fiktion eröffnen sich Interaktionsmöglichkeiten. Es wird nicht nur gesendet, sondern immer auch empfangen. Zwischen Fiktion und Realität, Schauspieler:in und Publikum, Einheimischen und Auswärtigen; zwischen dem Theater und seiner Umwelt. Das ist eine Einladung zu einem Dialog. Nehmen wir sie an.