Erschienen in 041–Das Kulturmagazin, April 2019 (Bild: Beat Allgaier).
Unter dem Slogan „lebendiger Stadtteil mit Industriecharme“ entwickelt sich die Viscosistadt in beeindruckender Geschwindigkeit zum urbanen Raum. Zwischen progressiv umgedeuteter Vergangenheit und gänzlich neugestalteten Räumen finden sich im alten Industrieareal aber immer noch Inseln der Vergangenheit. Eine dieser Inseln ist die alte Spinnerei Nylon-6, auf der seit der Stilllegung der Produktion 2012 die Welt tatsächlich stillgestanden ist. Unter der künstlerischen Leitung der Regisseurin Anette Windlin werden diese aus der Zeit gefallenen Räume von Theaterschaffenden besetzt und aktiv mit Erinnerungen überschrieben. „Gedächtnispalast“ heisst das Theaterprojekt, dass die fünf Stöcke der alten Fabrik in eine neue Welt verwandelt. Ab dem 26. April spielen 40 SchauspielerInnen auf 5000 Quadratmetern 60 Szenen, wovon zehn bis zwölf immer parallel laufen. Als Zuschauer*in muss man sich in dieser Welt selber einen Weg bahnen. Niemandem wird es dabei gelingen, alles zu sehen. Die Theaterbesuchenden sollen darum, so rät es Windlin, am besten alleine unterwegs sein und sich danach über ihre Erfahrungen austauschen. Erst gemeinsam setzt man dann im besten Falle die Geschichte zusammen. „Eine Geschichte,“ das ist Anette Windlin wichtig, „die man aber auch verstehen kann, wenn man nicht alle Facetten mitkriegt.“
Geschrieben hat diese Geschichte die Zentralschweizer Autorin Martina Clavadetscher. Rund um das Glück und Erinnern sollte sie kreisen. Herausgekommen ist eine „Geschichte wie ein Baum“, wie Clavadetscher sagt. Der Stamm sei eine Familiengeschichte, die sich um Marga und Hannes spinnt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Marga, die aus ärmlichen Verhältnissen stammt und wenig hat, findet das Glück im Kleinen. Hannes hingegen gleicht dem Dr. Faust; er hat schon alles, sucht aber immer nach noch mehr. Das Glück bleibt ihm dabei verwehrt. „Aber dann gibt es viele Nebengeschichten, die wie Äste aus der Geschichte herausgewachsen sind“, erklärt Clavadetscher, die sich bei der Textarbeit von den temporalen Zwängen des Erzählens erst befreien musste und dann Szenen geschrieben hat, deren Verknüpfbarkeit wichtiger war als die Einordnung in eine Chronologie. Dabei ist es ihr wichtig gewesen, „dass verschiedene Motive, Themen und Figuren immer wieder vorkommen.“
Räume, in denen man sich verlieren kann und ein Publikum, dass sich in diesen Räumen selbst überlassen ist. Durch dieses Setting war der Austausch mit Windlin beim Entwickeln des Texts wichtig, wie Clavadetscher erklärt: „Ich musste spüren, wohin Anette (Windlin) will. Sie muss es dann ja auch inszenieren. Und das ist sehr kompliziert.“ Anette Windlin spricht lieber von „Herausforderungen“, mit denen sie umgehen muss. „Wie von Geisterhand“ sollen die Abläufe der 40 Schauspieler in den 60 Szenen ineinandergreifen, sagt sie, „zudem müssen die 5000 Quadratmeter ausgestattet werden.“ Die historischen Räumlichkeiten müssen zur Kulisse überschrieben werden. Neben den 60 Szenen, von denen das Publikum nur unterschiedlich viele erleben wird, gibt es eine ganze Welt mit tausenden von Exponaten, mit historischen Objekten und Räumen, mit Video und mit Licht, mit zuschauenden, schauspielernden und improvisierenden Menschen zu entdecken. Gehend, schauend und hörend wird sich das Publikum den Gedächtnispalast erschliessen. Als „schon etwas wahnsinnig“ beschreibt die Regisseurin Anette Windlin das Projekt. Martina Clavadetscher spricht sogar von „gestörten Ausmassen“. Man darf gespannt sein.
Gedächtnispalast
FR 26. April bis SA 29. Juni
Viscosistadt, Emmenbrücke