unveröffentlicht.
Du lebst für fast drei Wochen auf dem Boot, im selben Boot mit fünf Ukrainern und 19 Filipinos. 23 Männer, eine Frau. Du bist Passagier:in für eine Passage. Das Boot ist gross. Es ist ein Schiff, ein Container Schiff; die APL Holland. Auf dem Schiff ein schmales Haus von sieben Stöcken auf 277 Meter langem Grund. An einem Montag Abend hast du es bestiegen. Auf der langen Treppe mit den abgerundeten Stufen, währenddem das Schiff beladen wurde. Nicht sehr gut beladen, nur vierzig Prozent des maximalen Ladegewichts. Einige Container seien sogar leer, only air inside, wie dir der Chief Officer heiter erklärt. Ob das Business nicht läuft? I don’t know. Wasser hilft, es beschwert das Schiff bis zur optimalen Wasserlage. Nur geschäften lässt sich damit nicht. Ahoi!, am Dienstagmorgen um zehn Uhr. Beschwert raus aus New Orleans. Mississippi Cruising den ganzen Tag. Zwei lokale Piloten lotsen. Links New Orleans, das lieb gewonnene. Der Nebel vor Houston, der das Schiff eine Woche verspätet ankommen liess, hat dir mehr Zeit in ihr geschenkt. Ein Geschenk, das du anzunehmen lernen musstest. Das Wetter ist kalt, aber fröhlich. Keine Wolke ziert den Himmel. Kanalisiert durch die Lost Lands navigierend, ins offene Meer hinaus, pünktlich zum Sonnenuntergang. Die Piloten spuckt das Schiff wieder aus. Das Pilotentaxiboot lehnt sich an die APL Holland, synchronisiert die Geschwindigkeit. The Beauty und das Biest beim Synchronschwimmen. Eine Luke geht auf, die Plattform des Taxiboots befindet sich nun direkt unter der Leiter. One pilot in the latter. One pilot on. Second pilot in the latter. Second pilot on. Durch den Golf von Mexiko, es wird wärmer, vorbei zwischen Cuba und Florida, die Bahamas zur Rechten, irgendwo in der unsichtbaren aber nahen Ferne. Am Samstagabend Party. Barbecue auf dem Deck, summerfeeling. Musik und eine Menge Grillgut. Ein Schwein am Spiess, schon seit dem Mittag über dem Feuer, filipinostyle, wie dir beteuert wird. Dem Schwein fehlt das rechte Vorderbein. Das sei wohl einzeln verkauft worden, rätselst du mit den Grillmeistern. Shrimps. Tintenfisch. Fisch. Poulet. Rindfleisch. Das alles schmeisst man sich nach 18 Uhr selbst auf die beiden halbierten Fässern, in denen die Holzkohle glüht. Baguette und Reis und Trauben, Softdrinks und alkoholfreies Bier, Kippen. Zweiklassengesellschaft, in erster Linie vertraglich. An diesem Abend sind alle gleich. Sonst kocht der Koch zwei Suppen. Europäer sind in der Regel vier Monate an Bord, bevor sie wieder nach Hause gehen und dasselbe Spiel wieder und wieder starten. Die Filipinos in der Regel zwischen sechs und neun, manchmal bis zu elf Monaten. Du versuchst dir vorzustellen, wie das wäre, zehn von zwölf Monaten weg zu sein, der Arbeit wegen. Es gelingt dir nicht. Durchs Bermudadreieck gehts weiter hoch gen Norden. Nichts als Meer. Bevor der Nordatlantik überquert wird, fährst du seiner westlichen Grenze entlang. Der Motor stockt. Der Treibstoff, die neuen Regulierungen. Nicht mehr ultra low, sondern very low ist nun die Losung. Du belustigst dich an dieser Bezeichnung. Very nach ultra? Und was kommt danach? Der Motor aber zickt, will den alten Stoff, ihm ist die Umwelt genauso egal wie die Bezeichnung. Den Ingenieuren auch. Die neue Regulierung bedeutet Arbeit. Was läuft soll nicht verändert werden. Maybe its better for the air. Der Motor wird justiert. Muss justiert werden. Der Treibstoff zündet nicht mehr auf Temperatur, sondern chemisch. Die Ingenieure arbeiten, bringen den Motor wieder zum Summen. Um ihn am nächsten Tag wieder zu justieren. Sisyphus lässt grüssen. Vier Tage vergehen so. Die Temperaturen fallen. Das mag der Motor. Er wird endgültig zahm. Einen Bogen beginnend führt die programmierte Route am östlichsten Zipfel Kanadas vorbei, Grönland erstaunlich nah, zwischen zwei Zyklonen in Wellen. Das Meer tobt, aufgepeitscht von Wind und Wolken. Blizzard. Regen. Das Meer öffnet seine Poren. Du schaukelst in sechs Meter hohen Wellen. Das Schiff tuckert unbeirrt weiter, in einer auf und ab Bewegung mit seitlichen Ausschlägen. Es ist Samstag und es knackst und knorzt und quietscht und alle torkeln, auf dem zero tolerance Schiff.









Es ist der Abend des ersten Februars und du denkst erheitert, dass du nicht der einzige Mensch sein wirst, der durch die Gegend torkelt. Deine Schwester feiert ihren 30. Geburtstag. Im Auge des Zyklons zwölf Meter hohe Wellen. Du bist froh, wurde die Route angepasst, um diesen Wellen aus dem Weg zu gehen. Alle sind es, auch Garcy, der Third Officer. Er ist 34 Jahre alt, seit 15 Jahren Seefahrer. Er kann sich bei rauher See noch immer nicht erholen, sagt er halb lustig und halb konsterniert. I don’t like the captain. Bei 19 Menschen an Bord ist das kein Geheimnis. Zum ersten Mal hörst du es bereits am ersten Abend, vom 23-jährigen Fourth Engineer. Du weisst noch nicht warum. Du wirst es immer wieder hören. Wie es um die restlichen vier steht, wirst du nicht lüften können. Die ukrainischen Landsmänner reden nicht so offen mit dir. Der Captain, wie das Wetter. Aufbrausend. Strikt. Jähzornig. 64 Jahre alt, aus Odessa. Im Kampf gegen das Alter. Sein Geschütz: Diät und Gym. Der Oberkörper noch immer gestählt. Der weiche Kern wird weiter zutrainiert. Das Alter greift von hinten an, die Haare am Hinterkopf lichten sich. Das Wetter beruhigt sich, die See lässt sich vom Winde zur Versöhnung sanft streicheln. Der erste Sturm zieht ab. Du fragst dich, ob der Captain nach der Pensionierung Ruhe und Frieden mit sich und seiner Umwelt finden wird. Du hast Zweifel, auch wenn er sich dann und wann ganz angenehm zeigt – aber nur, wenn er alleine ist mit dir und dir die Welt erklären kann. Vom zweiten Sturm noch keine Spur. Der Messman, Vener mit Namen aber du hast schnell gelernt, dass man sich hier nicht mit Namen anspricht, sondern mit Titeln, macht deine Kammer dann und wann. Er ist bald 35 Jahre alt, wechselt die Bettwäsche, saugt den Boden, reinigt die Oberflächen. Hilft dem Koch. Sein contract bindet ihn neun Monate an das Schiff. Er hat einen Buben und ein Mädchen. Beide noch ganz klein. Nach neun Monaten, plus minus einen Monat, bleiben ihm zwei Monate zuhause. Neun Monate weg. Zwei Monate zuhause. Er erzählt dir von den Kindern; und seinem Wunsch, einmal Weihnachten mit seiner Familie zuhause in Manila verbringen zu können. Es liegt keine Verbitterung in diesem Wunsch. Nur Hoffnung. Und Fatalismus, im Wissen, den Gang der Dinge nicht ändern zu können. Währenddem der Captain gegen das Altsein kämpft, arrangieren sich die Filipinos mit ihrem Leben, so gut es eben geht. Sie seien ein happy folk, sagt dir Princess Lee, die einzige Frau an Bord, Engineer Cadett, das letzte Jahr der Academy liegt noch vor ihr. Sie erklärt dir diese Fröhlichkeit im Umstand, dass den Bewohnern der Inseln, die regelmässig von Stürmen und Erdbeben verwüstet werden, gar nichts anderes übrig bleibt. Denn wären die Filipinos nicht glücklich, sie würden ihr Leben mit all den Zumutungen, die es ihnen bringt, nicht aushalten können. Du machst dir Gedanken. Der Zwang zum Fatalismus, der Zwang zum Leben mit einem Lachen im Gesicht, auf dass die Traurigkeit und Sehnsucht und die Schwere des Lebens abperlt wie ein Tropfen Wasser auf einem Grashalm an einem kühlen und feuchten, aber klaren, fast blendenden Herbstmorgen. Das Leben im Moment. Du liebst die abendlichen Ping-Pong-Sessions mit Francis und Garcy, singst Karaoke im Aufenthaltsraum mit Menschen aus den Philippinen, die für die französische CMA CGM arbeiten, auf einem Schiff, das dieser Firma gehört, vor 19 Jahren in Südkorea gebaut wurde und aktuell unter der Flagge von Singapur unter dem Kommando von Ukrainern über das Meer schaukelt. Captain Samofalov, Chief Officer Shlyakhtenko, Chief Engineer Bordan, Electrician Hirus und Electrician Cadet Veryzhnikov. Kein Ukrainer unter der Hierarchie eines Filipinos. Und du bist Passenger und interessiert und erst naiv und später vielleicht ein bisschen ratlos oder hilflos und auch dir bleibt nichts anderes übrig als der Fatalismus, der fröhliche Fatalismus, der Trost im gemeinsamen Lachen. Second Officer Meniano, Second Officer Esguerra, Third Officer Gatal, Deck Cadet Garcia, Second Engineer Ignacio, Third Engineer Dulaca, Forth Engineer Arocena, Engineer Cadet Paba, Reeferman Maisog, Bosun Supnet, Able Bodies Seaman (AB) Abuda, AB Castil, AB Docuba, Ordinary Seaman Suan, Engine Fitter Bagnol, Oiler Alarcon, Oiler Duzar, Chief Cook Espiritu, Messman Villanueva. Jeden Mittag um zwölf Uhr: Shhhh Shhhh. Good afternoon all ships personel and passenger. Diner alarm will be tested soon. Und vielleicht: ship clock will advance one hour thirteen hundert. Und nach dem zu Testzwecken gepiepst und gehornt wurde. Shhhhh. Shhhhh. Dear ships personel and passenger. Diner alarm completed. Every alarm will be treated real. Thank you and bon appetit. Der tägliche Blick auf die Offlinekarte deines Smartphones, das ohne Internet nicht sehr smart ist und mit jedem Tage lauter jammert, dass es offline nicht performen kann, verändert deine Welt. Island rückt viel näher an Europa ran. Und erst die Färöer! Langsamreisen verkleinert die mentale Weltkarte, denkst du. Sie rückt Orte näher zusammen. Fliegen hingegen macht die Karte überflüssig und die Welt indifferent. Die USA kommen dir auf dem Schiff näher vor, als sie es vorher für dich waren. Solche Gedanken machst du dir, währenddem du mit 20 bis 25 Kilometer pro Stunde über den Nordatlantik tuckerst. So langsam, dass du das Schiff mit dem Rennvelo überholen oder dich im Windschatten mitziehen lassen könntest. Aber es gibt keine Strasse, keine Brücke über dieses endlos erscheinende Gewässer, das man den grossen Teich zu nennen pflegt. Vier Tage später das erste Zeichen sich nähernder Zivilisation. Ein Vogel, ein menschgemachter Passagiervogel der in einem kleinen Wolkenfenster vor blauem Himmel in die Lüfte fliegt, ganz nah. Hinter ihm zwei Kondensstreifen. Wärst du VerschwörungstheoretikerIn, so befändest du dich nun wieder unter dem Einfluss der Weltmächte, die dich gefügig machen. So überfällt dich nur die Gewissheit, dass sich die Schifffahrt dem Ende neigt. Was so unglaublich langsam angefangen hat, wird plötzlich rasend schnell. Und dann, am Tag darauf: Land, Eng-Land in Sicht. England, lost, zur Linken. Du hast die Zeilen von Kate Tempest’s Europe Is Lost im Kopf. Europe is lost. America? Lost. London? Lost. Die Kanalinseln, lost, zur Rechten. Sie gehören weder zum Vereinigten Königreich noch sind sie eine Kronkolonie, nur wenige Kilometer vor Frankreich gelegen; sie sind im Besitz der Krone, crown dependency. In der Weltordnung der Telekommunikation gehört der Kronenbesitz zur Welt, nicht zur EU. Lost. Eine kleine Roaminglektion, die dir von deinem Mobilfunkbetreiber mit dem stolzen Preis von 200 Franken verrechnet wird. Ob England auch bald der Welt, und nicht mehr Europa angerechnet wird?, fragst du dich. Vögel und Fische im Kanal. Und viel Schiffverkehr. Nach 402 Stunden werden Anker geworfen, Freitagmorgens um vier Uhr, in der Bucht von Le Havre. Der Morgen leuchtet rotorange über der Hafenstadt und blau und dunkelblau und geht noch in die schwarze Nacht über. Fried Eggs, daily routine. Nur das Schiff bewegt sich nicht mehr. Wie jeden Morgen trinkst du nach dem Frühstück deinen Kaffe auf der Brücke. Mit dem seewachhabenden Offizier, dem Second, dem jüngeren der beiden Seconds, sprichst du leider nicht oder nicht viel mehr als good morning und have a good day, see you. Es wurde ihm vom Captain verboten. Lauthals. Am ersten Tag auf hoher See. Du standest neben ihm und wusstest nicht was geschieht und warst genau so Ziel der Attacke. Noch beim letzten Passagier sei es kein Problem gewesen, wird er dir später, am Telefon sagen und sich entschuldigen. Worauf du dich bei ihm entschuldigst, denn du wolltest ihn nicht in eine solche Situation bringen. Thats why I don’t like the captain. He is very strict. Im Beschrieb zur Frachtschiffsreise, den du danach nochmals hervor nimmst, liest du, dass sich der Captain und die Offiziere auf den Seewachen oft über Besuch und Gespräche freuen. Deinen wurde diese Freude genommen. Alle bedauern, der Captain regiert. Der Orange Feuerball geht direkt über dem Zielort auf. Die Ruhe vor dem Sturm. Er hat sich über dem Nordatlantik nicht aufgelöst, ist dir und deiner Schiffsgemeinschaft gefolgt, lässt nicht locker. Der Schoss des Hafens öffnet sich für die APL Holland erst am Sonntagmorgen um vier Uhr. Wegen des zu erwartenden Sturms versucht der Captain, der ungeliebte, dem immer öfters auch in deiner Präsenz nachgeäfft wird, den Termin einige Stunden nach vorne zu schieben. Maybe tomorrow twenty two hundert. But you never know what will happen. Thats seafarers certainty. Du bist auf einem Containerschiff gereist, von New Orleans nach Le Havre. Fast drei Wochen. Ob heute oder morgen, das spielt dir auch keine Rolle mehr. Du hast bereits so viele Stunden und Tage und Wochen verloren, dass du gelernt hast, dass man dabei Zeit gewinnt, im Unwissen noch, dass sich bereits ein weiterer Sturm abzuzeichnen begann, ein Sturm ganz ohne Wind, der die Welt im Sturm zu erobern begann, in diesen ersten Monaten des Jahres 2020. Ein Sturm, ganz ohne Wellen, ein Sturm, der keine Besatzung über Bord zu werfen droht, aber ein Sturm, der die geschrumpfte Welt mit all ihren Fluzgeugen und Reisenden fast komplett zum Stillstand bringen wird, der die Crews auf den Schiffen der Welt im Ungewissen lassen wird; darüber, ob sie in den Häfen der Welt noch anlegen dürfen und ob und wann sie ausgetauscht werden können, um nach Ablauf ihrer vier oder neun Monaten endlich wieder nach Hause fliegen zu können.
Sie ist 22 Jahre alt als Cadett Engineer zum ersten
–Schifftagebuch–
Mal auf hoher See bereits seit mehr als sechs
Monaten sie sagt it’s fun und wird es wieder tun aber
sie freut sich auf zu Hause doch ihr Name Paba Princess
Lee steht nicht auf der Liste die vom Captain ver
lesen wurde und die Crewmitglieder benennt
die in Le Havre ausgetauscht werden sollen
sie weiss nicht wie lange sie noch bleiben
muss aber in der Nachricht die sie hat stand doch
der 9. Februar 2020
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Sie hat vier Brüder zwei davon sind adoptiert sie
geht in die Academy sie ist auf Praktikum quasi
und in einem Jahr wird sie graduiert in der Aca
demy ist sie eine von 14 Frauen unter 300
Männern auf dem Schiff ist sie die einzige von 24
Crew Mitgliedern sie sei es sich gewöhnt sie habe
vier Brüder die zwei adoptierten beide 19 Jahre
alt machen ihr Sorgen, sie haben beide die
Universität abgebrochen und das einzige was sie
interessiere sei Alkohol sie haben ihr geschrieben
eba grosse Schwester can you bring whiskey sie will
nach Hause ohne Whiskey und sie dazu bringen wieder
an die Uni zu gehen sie macht sich Sorgen weil sie
immer wenn sie mit ihnen telefoniert bet
runken sind ihre Familie hat sie adoptiert nicht
weil sie reich seien aber dem Mittelstand angehören
sie haben ein family business vertreiben Elektrogeräte
das ihr älterer Bruder 24 Jahre alt nun führt er führt aber
nicht nur dieses Business sondern auch eine kleine Bar
die wird aber kaum lange überleben sagt Princess oder
Cess wie sie sich vorgestellt hat weil Princess ja nun wirklich
unmöglich ist das habe sie auch ihren Brüdern gesagt wenn
sie alle immer so viel trinken it will get ruined by
them.
Und plötzlich öffnet der Hafen seinen Schoss, schon am Freitagabend, unbemerkt. Eine letzte Nacht, um sieben Uhr in der Früh kommt der Transportservice. Den Lift runter, den Gang entlang raus auf das Deck. Auschecken beim Portier. Die eigenartige Treppe runter. Rein in den schwarzen Van. Zehn Minuten später am Bahnhof, auf Land, inmitten einer noch verschlafenen Hafenkleinstadt. Kaffe und pain au chocolat. Die NZZ vom Vortag. Die Rede von einem Virus in China. Knapp zehn Stunden später in Luzern. In 20 Tagen von New Orleans in die Leuchtenstadt.