Erschienen in 041–Das Kulturmagazin, Dezember 2015 (Bild: Affolter/Savolainen)
Viermal im Jahr verwickelt Roland Neyerlin im Kleintheater Persönlichkeiten in ein philosophisches Gespräch. Im Dezember hiess sein Gast Michael Fehr, dessen Text „Kurz vor der Erlösung“ fast zeitgleich ebenfalls im Kleintheater von den „Matterhorn Produktionen“ inszeniert wurde. Ein Gespräch über das Denken im öffentlichen Raum.
Lieber Roland Neyerlin, warum braucht es Philosophie im öffentlichen Raum?
Das ist eigentlich einfach. Philosophisch betrachtet ist der öffentliche Raum der politische. Das ist seit der griechischen Antike so. Es ist der Ort, wo Menschen über die Frage nach dem guten Leben gemeinsam nachdenken. Was mich sehr beschäftigt ist, dass es für das Zusammen-Nachdenken im öffentlichen Raum zu wenig Gefässe gibt. Für Diskussionen im Sinne von „Ich schlage euch jetzt meinen Standpunkt um die Ohren und bleibe dabei!“ gibt es hingegen viel Raum und Zeit.
Die Gäste spielen bei einem Gespräch eine zentrale Rolle. Nach welchen Kriterien werden sie ausgewählt?
Die Idealsituation wäre, dass ich einfach spannende Leute einlade, ohne mich um Bekanntheitsgrade und Zuschauerquoten kümmern zu müssen. Das kann und will ich aber nicht. Das Kleintheater gibt mir diese Gesprächsmöglichkeit und finanziert sie auch. Es ist eine Gratwanderung: Ist jemand ein Hype, dann kommen viele Leute. Genau diese Gäste sind jedoch meist nicht bezahlbar. In der Kulturszene ist es wie bei den Managern: Es gibt welche, die reagieren nicht einmal, wenn ich von einer Gage von 300 Franken spreche.
Wie oft scheitert ein solches Gespräch?
Es funktioniert nicht immer – manchmal auch überhaupt nicht. Ich habe jetzt knapp 30 Wortwechsel gemacht, und von denen sind vielleicht einer oder zwei abgestürzt. In der Regel ist es aber nicht so, dass ich nach zehn Minuten sagen muss: „Das wars dann wohl“. Vielleicht beim Fehr? Ich weiss es nicht.
Warum haben Sie Michael Fehr eingeladen?
Ich finde Literaten und Literatinnen oft philosophisch viel präziser, verständlicher und poetischer als die Philosophen. Ursprünglich wollte ich Pedro Lenz anfragen. Matthias Bürki vom Gesunden Menschenversand hat dann gemeint: „Keine Chance“ – und mir von Michael Fehr erzählt. Von ihm hatte ich kurz zuvor ein Interview im Radio gehört und gedacht: Das ist jetzt ein knorriger, eigensinniger Typ!
Worüber werden Sie mit ihm sprechen?
Das Finden eines Themas war in diesem Fall ein schwieriger Prozess. Fehr ist unglaublich assoziativ. Er springt von einem Begriff ins Universum seiner Facetten und von dort dann in andere, neue Begriffe. So hat er auch Themen vorgeschlagen. Irgendwann hat sich herauskristallisiert, dass ihn Fragen der Macht beschäftigen. Fehr denkt beim Begriff „Macht“ stark an Ermächtigung und an eine Art Lebenselixir – das ist sehr interessant. Darum haben wir uns auf das Thema „Macht – ein unverzichtbares Lebenselixir“ geeinigt.
Warum soll man sich heute, wo alles messbar ist, noch dem Denken widmen?
Ganz einfach: Weil wir Verstand und Vernunft haben. Der Verstand ist immer auf ein bestimmtes Areal bezogen. Darum sprechen wir etwa von wissenschaftlich-technologischer Rationalität. Da wird gewogen, gemessen, gezählt. Wir leben heute im Zeitalter des Zahlen- resp. Kennzifferfetischismus. Die Vernunft dagegen hat das Vermögen, über diese Begrenztheit hinauszugehen. Sie kann das Ganze bedenken.
Wird das Denken im Zeitalter des Zahlenfetischismus schwieriger?
Nein, ich glaube nicht. Das Schwierige ist eher, das gewisse Denkformen überhaupt noch zugelassen werden. Es zählt, was zählbar ist. Diese Sichtweise hat ihre Grenzen gerade dort, wo es um Menschen geht. Die Wirksamkeit von Therapien beispielsweise lässt sich nur bedingt messen – Menschen sind keine Bremsspuren!